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Sherlock Holmes. Heute?

Von Thomas Wörtche

 

Wenn man anfängt, über Reminiszenzen nachzudenken, können erstaunliche Dinge herauskommen. Im Mai 2009 bat mich die Radiomacherin Ute Büsing anlässlich des 150. Geburtstags von Sir Arthur Conan Doyle für ein Gespräch über den Stellenwert von Sherlock Holmes ins RBB-Inforadio-Studio. Und während des Gesprächs, für das ich mich brav noch einmal faktensicher gemacht hatte, kamen mir so meine Zweifel: Interessiert mich Sherlock Holmes eigentlich heute noch die Bohne? Hat er mich je interessiert? Und wenn nicht, warum?

Im Alltagsgetöse gehen solche Momente der Irritation zwar schnell vorbei, aber subkutan pocht ein unbearbeiteter Rest. Als dann Anfang des Jahres 2010 der Guy-Ritchie-Film über Holmes und Watson in die Kinos kam, wartete ich skeptisch erst einmal die Besprechung ab, die die kluge Henrike Heiland für den damals noch in der Blüte stehenden "SiK" beim mittlerweile absterbenden TITEL Magazin schrieb. Heilands Argumentation, Ritchie habe erst einmal 100 Jahre Rezeptionsgeschichte entrümpelt und unter dem ganzen prätentiösen Holmes-Getue angeblicher Connaisseure und dauerenthusiasmierter aficionados, unter der Last von Ikonographie, Fandom und Gemeinplätzen einen sehr brauchbaren Filmstoff hervorgebuddelt und mit "Eleganz und Selbstironie" in eine wunderbaren Kinokracher verwandelt, fand ich einleuchtend. Also habe ich mir den Film angesehen, fand ihn grandios, according to Henrike Heiland, hatte mich prächtig amüsiert und dann, in einem Anfall von Melancholie doch wieder darüber nachgedacht, dass mich außer dem filmischen Spektakel (Filme haben Spektakel zu sein, das ist nun mal ihr Beruf und insofern ist dieses Argument ein hohes Lob) an dem ganzen Holmes/Watson-Kram eigentlich nichts so richtig interessiert. Nicht als mein persönliches Problem oder Ausdruck eines intellektuellen ennui, sondern ich grübelte, was mich warum aus welchen Gründen interessieren sollte?

Man kennt die Holmes-Geschichten natürlich längst, bevor man sie gelesen hat. Aus Filmen, aus dem Fernsehen, aus anderen Fassungen, aus Erzählungen, aus dem smalltalk. Sie sind präsent als Ergebnis "ungeplanter Rezeptionen" (um eine Analogie zu Norbert Elias' Theorie "ungeplanter Prozesse" zu wagen). Man muss sich nicht mit Crime Fiction beschäftigen, man muss noch nicht mal besonders literarisch interessiert sein: Jeder Mensch weiß grob und ungefähr, was ein Sherlock Holmes ist. Und ein Watson. Genauso wie ein Don Quijote und ein Sancho Panza (obwohl ich dieses Beispiel hier nur ironisch benutze, denn es ist ziemlich fatal, in Sancho Panza einen Sidekick avant la lettre von Don Quijote zu sehen, und beide Konstellationen an dieser Stelle in einen Zusammenhang zu bringen - hier muss ich mich in Bezug zur o.a. Radiosendung revidieren, aber das ist ein anderes Thema). Aber das ist ein literatursoziologisches Problem, für eine empirische Rezeptionsforschung möglicherweise interessant oder ein Grund, über die Mechanismen von Ikonisierungsprozessen nachzudenken.

Literaturkritsch gesehen - und daher rühren vermutlich meine Probleme, also eine ganz normale déformation professionelle - bedeutet das alles überhaupt nichts.

Die Popularität einer literarischen Figur sagt noch nichts über die literarischen Folgen, über ihre substantielle produktionsästhetische Wirkmacht. Wir müssen genau hinschauen: Ein vermutlich erklecklicher Anteil von Kriminalautoren aus aller Welt würde sich auf Sherlock Holmes berufen. Das ist okay, das ist eine artige Verbeugung, bestätigt den Applaudierer in seinem Selbstbild, dereinst auch berühmt und reich zu werden, ist kulturhistorisch im abgesicherten Modus. Man ist immer on the safe side, denn wer wollte mit seinen eigenen literarischen Figuren nicht in der Tradition des großen Holmes stehen. Schön und gut. Und absolut unverbindlich.

Das fällt dann auf, wenn man die Geschichte der Kriminalliteratur danach durchmustert, wie sich denn welche Merkmale der Sherlock-Holmes-Stories/Romane produktiv im Werke anderer zeitgenössischer oder, spannender, nachfolgender Autoren niedergeschlagen haben. Dabei gelten nicht Rekurse auf die Sherlockiana in Romanform, die Conan Doyles Personal übernehmen und fröhlichen intertextuellen Scherz & Frohsinn treiben, wie zum Beispiel die netten Lestrade-Romane von M. J. Trow. Solche charmanten Spielereien sind Paraphernalien für Fans und Freunde, haben aber in einer Wirkungsgeschichte kaum größeres Gewicht.

Anders sieht es schon mit der Figur des "Father Brown" aus, die Gilbert Keith Chesterton ganz bewusst gegen Sherlock Holmes positioniert hatte - alleine optisch. Und konzeptuell sowieso. Aber das nur der Vollständigkeit halber, das Faktum ist oft genug bemerkt und kommentiert worden. Darüber hinaus kann man natürlich auch Sherlock Holmes als Folie vermuten, vor der Agatha Christie ihr Domestizierungsprogramm von allen Elementen betrieben hat, was an der Kriminalliteratur ihrer Zeit noch nach Außenseiterhaftem, Randständigem und Exzentrischen aussah. Dissonantes Violinspiel, Rauschmittelkonsum und uneindeutiges Sexualverhalten, d.h. alle Reste der "schwarzen Romantik", die im Rationalisten Holmes noch dialektisch aufschienen, wurden von Frau Christie auf Hochglanz geschrubbt. All dies wurde zu kleinbürgerlichen und drolligen Spielfiguren umdressiert und somit einer vom Großen Krieg traumatisierten, allmählich auseinanderfallenden Gesellschaft als neues, optimistisches Sinnangebot ("der Täter wird immer überführt, kein Tod bleibt ungesühnt") aufbereitet. Man kann trefflich streiten, ob Agatha Christie sich dazu tatsächlich der Figur Holmes als negative Schablone bedient hat - bewusst, würde ich vermuten, eher nicht. Faktisch schon.

Und damit, glaube ich, erlischt auch schon eine übers Museale und eine unter Fans und Bekennern identitätsstiftende Normativität der Projektes Sherlock Holmes hinausgehende Relevanz von Figur und Konzept. Deduktives Denken musste nicht seit der Antike auf Holmes warten, um Allgemeingut zu werden; die kriminalistische Forensik fand auch ohne Holmes statt und ihr Omnipotenzwahn ist heute noch - wie in den CSI-Formaten - so albern wie damals im Viktorianismus, aber dazwischen besteht kein weiterer, systemischer Zusammenhang. In der Tat, "ungeplante Prozesse" in der propagandistischen Rhetorik, Verbrechen seien beendbar, wenn man nur genügend Technik aufwendet. Das ist ein geistesgeschichtliches Kuriosum, das sich immer wieder in populärkulturellen Formaten manifestiert, aber auf einer anderen Ebene als der literarischen liegt.

Literarisch, also auf dem Feld, das ein Literaturkritiker besonders interessieren sollte, hat Holmes keine Folgen gezeitigt. Das zu verlangen, wäre aber auch ungerecht. Holmes und Watson und ihre Widersacher, Feinde und anderes Personal sind Funktionen in diversen (in der Wiederholung strukturell ziemlich abwechslungslosen) Spielsituationen, wie schon früh der Formalist Viktor Sklovskij festgestellt hat. Diese Spielsituationen haben mit der sie umgebenden Wirklichkeit (dem Spätviktorianismus, dessen Signaturen Steven Marcus immer wieder herausarbeiten konnte, ohne die Holmes-Figur je besonders als Stimme der Zeit dazu aufrufen zu müssen) nur die übliche Eckparameter einer zeitlich/räumlichen Kennzeichnung gemeinsam, mehr nicht. Die zu lösenden Fälle sind Konstrukte, die auf ihre Auflösbarkeit hin konzipiert sind, auf nichts anderes. Deswegen sind Figuren und Konstellationen lediglich binnentextuell motiviert. Dass man in moorigen Landschaften im UK Erbschaftsprobleme mittels phosphorleuchtenden Hundchen zu lösen pflegt, ist nicht die Art von "Fall", dem man einen "Sitz im Leben" zu unterstellen bereit ist. Und weil in diesem Binnentext die Sprache keine ästhetische Autonomie hat, funktioniert das Muster by doing prächtig, solange es aus er Ur-Fabrikation kommt, erlaubt aber keine Anschlussmöglichkeiten.

Immerhin: Zur Mythenbildung hat es gereicht. Aber mythenbildende Texte erschöpfen sich oft eben darin. Man kann sie kritisieren, parodieren, sie hin und wieder neu interpretieren, aber ihre Substanz reicht, weil sie genau so sind, wie sie sein müssen, um solche unscharfen, breitenwirksamen, unkonkreten Verständigungskürzel (Holmes = Genie/Detektiv) herzustellen, für anderes, für mehr nicht mehr aus. Ihre flache ästhetische Organisation verhindert, dass Neuansätze wirklich fruchtbar werden. Im Gegensatz etwa zu Susanne Langes großartige Neuübersetzung von Cervantes' "Don Quijote", die ganz neue Dimensionen aus dem Text herausholen kann, weil der Text sie hergibt, zeigen Holmes-Neuübersetzungen (so philologisch nützlich sie sein mögen und so unterhaltsam und hübsch) keine grundsätzliche neue Dimensionen von Figur und Konzept auf.

Vermutlich gibt es sogar unzählige Holmes-Klone in der kriminalliterarischen Massenproduktion aller Kontinente und Zeiten, vermutlich auch unzählige Anspielungen und Echoes, Reverenzen und Referenzen, klar. Es gibt den ikonischen Holmes mit und ohne Hakennase, mit und ohne Pfeife, mit und ohne Deerstalker, beliebt etwa als Icon für geliehene Autorität und prätendierten Scharfsinn. All das und mehr auf den diversen Levels des literarischen und außerliterarischen Devotionalienzirkus. Ich kenne keine ernsthafte produktionsästhetische Folge von Holmes & Co, keine Literatur, die in einem eindeutigen, produktiven Filiationsverhältnis zum Original stehen würde. Holmes ist Marmor, Museum, Mumifizierung.

Insofern ist Guy Ritchies Film vielleicht doch weniger eine "Instandbesetzung" eines alten Topos als das radikale Ignorieren des Originals, und ein Neubau: Holmes turns physical. Das ist großartig gelungen und vielleicht ist das auch die energischste Irrelevanzerklärung für ein altes Muster. Man kann alles mit ihm machen, sogar großes Kino.

© Thomas Wörtche, 2010
(Krimi-Tipp #54,
Juni 2010
)

 

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