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Wörtches Crime Watch 12/2002

 

Martin Pollack: Anklage Vatermord

 

Martin Pollack: Anklage Vatermord »True Crime« ist ein merkwürdiges Genre. Es schillert irgendwo zwischen Gerichtsreportage, Porträt beliebter Scheusale und Rekonstruktion berühmter Kriminalfälle. Manchmal ist es auch die Farbe verwesten Fleisches, was da schillert. Dann nämlich, wenn »True Crime« zum Vorwand allerlei voyeuristischer oder sensationeller Exerzitien wird. Neben Profis der Gerichtsreportage oder des Pitavals wie Hugo Friedländer oder Gabriele Tergit haben sich die unterschiedlichsten Autoren mit »True Crime« cum grano salis beschäftigt: Eric Ambler, Ricarda Huch, Jim Thompson, Truman Capote, Jakob Wassermann, Joseph Wambaugh, Heinrich von Kleist, Patricia Cornwell oder Theodor Fontane. Die Qualität der daraus resultierenden Texte ist durch die Bank sehr gemischt. Bis auf Capotes »Kaltblütig« und Wambaughs »Tod im Zwiebelfeld« sind alle mehr oder weniger unbefriedigend geblieben - sei's aus literarischen, sei's aus sachlichen Gründen. Von der ganzen trüben Suppe der Serial-Killer-Sachbücher wollen wir gar nicht reden. Sie markierten nämlich den Punkt, an dem das Genre endgültig ins bloss Schrille und Schaulüsterne umgeschlagen war. Die neue Welle der gerichtsmedizinischen (Zu-)Nähkästchen-Plaudereien fügt sich da gruslig ein.

Umso freudiger wollen wir deswegen Martin Pollacks »Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann« begrüssen. Pollacks glasklare, präzise Prosa steht deutlich in der Nachfolge Capotes und ist auch hier das einzige Instrument, das eine verworrene Geschichte in ihrer Verworrenheit einsichtig machen kann.

Philipp Halsmann war ein lettischer Student der Mechanik, der in den Verdacht geriet, 1928 während einer Bergtour im Tiroler Zillertal seinen Vater, Morduch Halsmann, Zahnarzt zu Riga, ermordet zu haben. Halsmann junior wurde in zwei Instanzen verurteilt, nach internationalen Protesten allerdings 1930 von der Republik Österreich begnadigt und starb 1979 als einer berühmtesten Photographen des letzten Jahrhunderts in den USA. Da lautet sein Name aber Philippe Halsman. Seine Prominenz vedankte er ausschliesslich seinem photographischen Können, die Jugendgeschichte war weithin vergessen bzw. völlig unbekannt.

Zur Zeit der erzählten Handlung war er ein linkischer, leicht mürrischer Student. Die Proteste vieler Zelebritäten jener Jahre - Sigmund Freud, Jakob Wassermann, Erich Fromm usw. - hatten damit zu tun, dass gegen den Juden Halsmann in einem antisemitischen Umfeld verhandelt wurde, in Innsbruck. Es bedarf schon beträchtlicher intellektueller Schärfe, um allein die Gemengelage, die sich aus der politischen Konstellation ergibt, präzise zu schildern. Mit der Formel »schwarzes Tirol« gegen »rotes Wien«, d.h. örtliches Geschworenengericht und Staatsanwaltschaft gegen Anwälte und Gutachter aus der Metropole, sind die Fronten viel zu eindeutig, um ein stimmiges Bild abzugeben. Richtig ist, dass antisemitischer Katholizismus, völkische »Heimwehr« und sogenannte Hitler-Nazis (im Gegensatz zu einer noch eigenständigen lokalen nationalsozialistischen Fraktion, die auch mitmischte) versuchten, die Atmosphäre des Prozesses zu beeinträchtigen. Richtig aber ist auch, dass Tirol als vom Tourismus abhängiges Land, keinesfalls die reiche jüdische Kundschaft in die Schweiz abwandern sehen wollte. Richtig ist ferner, dass die Sozialdemokratie »Klassenjustiz« zugunsten des Bourgeois Halsmann witterte und jede angebliche »Vergünstigung« bezeterte.

Dazu kamen auf der gutachterlichen Ebene Kämpfe der sich gerade formierenden Psychologie gegen die etablierte Psychiatrie, für die der Prozess Halsmann eine schöne Bühne war. Die Medien mischten fröhlich mit - pro und contra Halsmann, aber alle mit dem hysterischen Tonfall der moral panic. Nur Karl Krauss' »Fackel«, sonst immer gerne bereit, der österreichischen Justiz an den Wagen zu fahren, hielt sich auffällig schweigend zurück. Aber unter all diesem Getöse bleibt die Frage, was wirklich passiert war zwischen Vater und Sohn. War der Vater nur gestürzt und von dritter Hand ermordet worden, während der Sohn um Hilfe lief? Dafür gab es keine harten Beweise. Oder hat der Junior den Senior tatsächlich erschlagen? Dafür gab es Anzeichen, Hinweise und eine gewisse Plausibilität der Situation. Aber keine harten Beweise. Das ist in der Tat eine spannende Geschichte, die Martin Pollack spannend inszeniert hat.

Martin Pollack: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann. Wien 2002: Zsolnay. 324 Seiten, 21.50 Euro (D)

 

© Thomas Wörtche, 2002

 

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