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Wörtches Crime Watch 10/1997

Andreas Roth und Robert J. Courtine

 

Nichts schützt vor den Torheiten des Aktuellen mehr als der Blick auf historische Tatsachen.

Eine spannende Studie über "Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850 - 1914" von Andreas Roth belegt diese Binsenweisheit einmal mehr. Hat man sich erst einmal mit dem erschütternden Preis abgefunden (es gibt auch Bibliotheken) und sich von dem Verhau aus Fußnoten und Statistiken nicht beirren lassen, enthüllt Roths Buch einen spannenden methodischen Ansatz von hoher Plausibilität: Die Geschichte der Großstädte auch dargestellt als Geschichte der jeweiligen Polizeien. Seine Beispiele sind Hamburg, Duisburg und, zentral, Berlin.

Roths Grundvermutung, "daß die Geschichte der Polizei im wesentlichen vom Urbanisierungsprozeß beeinflußt und ein Stück Stadtgeschichte" ist, führt folgerichtig zu der Frage, welchen Anteil sie selbst an der Herausbildung "moderner" Verhältnisse hat. Mit anderen Worten: Wenn "Urbanisierung" ihre Konsequenzen für Kriminalität hat, wie sieht es umgekehrt aus, "inwieweit beeinflussen der moderne Staat und seine Funktionsträger selbst die Entwicklung der Delinquenz"? Roth beantwortet diese Fragen, die allesamt heute eine zentrale Rolle in dem hochgeheizten Wahlkampfthema "Innere Sicherheit" spielen, nicht mit grobschlächtigen Thesen. Er verpackt die brisante Aktualität seines Buches in die Akuratesse der historischen Ableitung. Roth zeigt, wie nach dem Wegfall des "Wohlfahrts"-Aspekts des "Polizierens" ("Polizei" definierte sich bis Ende des 19. Jhrs. als "Wohlfahrts-" und "Sicherheitsinstitution") sich allmählich das Strafrecht als adäquater Umgang mit sozialen "Kalamitäten" durchsetzte. Sein Beispiel dafür sind Bettler und Vagabunden, an denen exerziert wurde, wie man unterstelltes "sozialschädliches Verhalten" in "kriminelle Veranlagung" uminterpretieren kann - weit vor der Einführung des Begriffs "Berufsverbrecher". Er übersieht auch nicht, daß "ein solcher 'Kampf' gegen eine bestimmte, sozial schwache Gruppe politisch gerade in Krisenzeiten beliebt ist, vermag er doch von anderen Problemen abzulenken".

Neben schönen Beispielen, wie der "politische Wille" Polizeiarbeit steuert, dokumentiert Roth das ständige Gerangel zwischen einer angeblich zu "liberalen" Justiz und den Forderungen nach mehr Befugnissen für die Polizei. Ein Zwist, der dazu geführt hat, "daß die moderne Polizei eine polizeiliche Durchdringung der Gesellschaft erreicht" hat, daß der in "modernen Befürchtungen apostrophierte 'gläserne Mensch' im Kaiserreich vorbereitet" wurde. Als dies kulminiert, so Roths Zusammenfassung, in der Überzeugung, daß "für die moderne Industriegesellschaft notwendigen Disziplinierungen zunächst das Strafrecht das rechte Mittel schien". Das Legalitätsprinzip: alle Straftaten werden verfolgt, war, wir wissen es, nicht durchzuhalten, die Praxis der Strafverfolgung mußte es lockern. Roth vermutet, daß die "Entstehung des modernen Sozialstaates" an dieser Lockerung und Differenzierung wesentlich beteiligt war. Das führt zu der hochaktuellen Pointe: Was passiert, wenn der "moderne Sozialstaat" abgebaut und eingeklappt wird? Ein notwendiges Buch zu notwendigen öffentlichen Debatten.

Was bei dem ganzen Getöse um "das Verbrechen" gerne übersehen wird, uns aber z.B. tagtäglich körperlich attackiert, ist die verbrecherische Energie, mit der uns interessierte Kreise zwingen, immer mehr widerwärtigen Dreck zu essen. Ob wir wollen oder nicht. Sapienti sat über BSE und Food Design. Als kleines kriminalliterarisches Antidot sei die wohlfeile Taschenbuchausgabe von Robert J. Courtines Rezeptsammlung aus der Küche von Madame Maigret empfohlen. Es muß nicht gleich "Tête de veau en tortue" sein, der berühmt-berüchtigte "Kalbskopf nach Schildkrötenart". Aber die wunderbaren Gerichte mit guten Lebensmitteln für normale Menschen ohne Diätwahn und Cholesterin-Phobie sind ein appetitmachender Aufruf, den ganzen Schlawömps aus Mikrowelle und Kühltruhe schnellstens zu vergessen. Gegen manche kriminellen Angriffe kann man sich ohne Großen Lauschangriff wehren. Und Maigret hat gutes Essen immer gebraucht, um mit den Scheußlichkeiten der Welt fertigzuwerden.

 

© Thomas Wörtche, 1997

 

Andreas Roth:
Kriminalitätsbekämpfung in deutschen
Großstädten 1850 - 1914.

Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997.
460 Seiten, DM 128.-

Robert J. Courtine:
Simenon und Maigret bitten zu Tisch.

Die klassischen Bistrorezepte der Madame Maigret.
Dt. von Pierre F. Sommer.
Zürich: Diogenes 1997.
220 Seiten, DM 16,80

 

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