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Leichenberg 12/2001

 

Auch Clochards haben Familie, und was sich zunächst als bösartige Sozialreportage anlässt, dreht sich bald in eine tiefschwarze Familiengeschichte: Dodo von Sylvie Granotier (Distel), ein Roman von ganz unten. Erzählt aus der Perspektive der Pennerin Dorothée, genannt Dodo. Prallvoll mit Details über das Leben auf der Strasse in Paris und glücklicherweise ohne Didaxe. Die Gewalt, die die in Algerien geborene Sylvie Granotier schildert, ist so alltäglich und beiläufig, dass sie erst bemerkenswert wird, wenn sie zum Exzess gerät. Das dürfen wir gerne als Kommentar zur »westlichen Zivilisation« verstehen.

Paris ist bekanntlich auch das große Thema des Zeichners Jacques Tardi, der in den einfachen Nestor-Burma-Geschichten von Léo Malet (noch ein Paris-Mythomane) die idealen Vorlagen für seine berauschend grau-schwarz-weissen Bilderwelten gefunden hat. Nestor Burma: Wie steht mir Tod? heisst das Album, das gerade auf Deutsch bei der Edition Moderne erschienen ist. Diesmal geht es um die Gegend um den Gare de L'Est - im Oktober 1956. Die solide, nicht weiter aufregende Geschichte um ein paar schmierige Cabaret-Halbgrössen bietet wie immer bei Tardi den Vorwand für seine penible zeichnerische Rekonstruktion der Stadt jener Jahre und vor allem für eine einzige detailverliebte Orgie in Atmosphäre. Selbst heute ist es noch unmöglich, Paris nicht mit Tardis Augen zu sehen.

Ein begnadeter Atmosphären-Macher ist auch Pierre Magnan. Seine Landschaft ist die Haute Provence, sein Blick auf diese Welt ist der des knarzigen Kommissars Laviolette, den wir bis jetzt aus den beiden Romanen »Das Zimmer hinter dem Spiegel« und »Tod unter der Glyzinie« kennen. Jetzt gibt es unter dem Titel Kommissar Laviolettes Geheimnis drei zu einem Band (Scherz) versammelte längere Stories - die trotz des Untertitels »Roman« eigentlich keiner sind-, in denen Laviolette noch deutlicher als sonst als erzählerisches Prinzip funktioniert. Die Geschichten, mit leicht spökenkiekerischem Einschlag, sind Meisterwerke der Verdichtung: Von Natur, Gesellschaft, Zeiten und Menschen - und bisweilen atemberaubend und beklemmend wie Alpträume, ohne je Horrorszenarien zu werden. Prosaperlen.

Keine Prosaperle hingegen (und auch sonst keine) ist der arg gequälte Versuch von Julian May, Space Opera und Wirtschaftsthriller zu kreuzen: Der Sporn des Perseus (Bastei) hat zwar ein paar nette Ideen, ist aber ansonsten ein Gemisch aller Untugenden zweier Genres: Die Space Opera liefert die üblichen, schlecht getarnten Xenophobien der Jetztzeit auf Aliens projziert, als ob der Kalte Krieg im Weltenraum immer noch tobt, und der Wirtschaftsthriller naive Verschwörungstheorien à la Stamokap. Eine merkwürdige Zeitmaschine, die uns da plötzlich anspringt.

Intelligenter mischt da schon Michael Marshall Smith in Stark, der Traumdetektiv (Rowohlt Paperback) seine Ingredienzen. Sein private eye muss einen verschwundenen Geheimdienstler wiederfinden und bewegt sich zu diesem Behufe durch eine vor allem witzig und phantasievoll gepinselte Zukunft. Smith spinnt da die Fäden weiter, wo Philip K. Dick lediglich Andeutungen und Hinweise gegeben hatte: Wieviel verzweifelte Komik hat eine durchgedrehte Technologie zu bieten. Eine Technologie, die eigentlich dem Menschen dienen soll, ihn dann aber mit vergnüglicher Boshaftigkeit kujoniert. Benevolente Sozialtechnologie als Nährboden für eine hochkriminelle Story, das überzeugt mich.

 

© Thomas Wörtche, 2001

 

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