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Leichenberg 11/1995

 

Im Dezember darf man ruhig aufs Thriller-Jahr 1995 zurückblicken - mit leichtem Schaudern. Die Verlagslandschaft scheint im Krimi-Delir zu liegen, obwohl die realen Verkaufszahlen ziemlich bedenklich stimmen. Kein Wunder, denn eine paradoxe Situation richtet schlimme Flurschäden an. Es wird verlegt, was nicht niet- und nagelfest ist: Gemüsekrimis, Frauenkrimis, Regionalkrimis, noch mehr Frauenkrimis, Berlin-Krimis, Mittelalter-Krimis, Universitätskrimis, nichts ist zu öde und blöde, als daß sich nicht ein Verlag dafür finden würde. Und nebst schlampigen Übersetzungen, und abwegigen Covern gabs auch jede Menge ökonomisch katastrophaler Hypes. Gleichzeitig versagt, bis auf ein paar Ausnahmen, die Kritik vollständig, bzw. stößt brav ins Horn eben jener Verlage. Die wirklich guten Autoren aber, die 1995 erschienen sind, drohen in dieser unterschieds- und gesichtslosen Flut unterzugehen: Robert Littell, Ross Thomas, William Marshall, D.B. Blettenberg, um nur ein paar zu nennen. Krimi, diese Bezeichnung ist zu einem flächendeckenden Leichentuch geworden, unter dem einzelne Bücher, einzelne Autoren jeglichen Geschlechts zu ersticken drohen - und letzten Endes ein ganzes Genre, das gerade auf dem Weg war, seine Potentiale breit zu entfalten. Denn der ganze Schrott & Schotter, der auf den Markt geballert wird, hat ja auch eine Tendenz: Das Ausreizen schlichter Muster, möglichst ohne literarische Komponente, aber mit möglichst einfachen Weltbildern. Alles andere gilt als zu schwierig, zu intelligent, beim Publikum nicht durchzusetzen. Aber wirklich guten, miesen, wunderbaren Trash gibt es auch nicht.

Deswegen zum Fest noch ein paar Empfehlungen: Harte Schnitte  von D.B. Blettenberg (Schweizer Verlagshaus), das angelsächsisch knapp und präzise erzählt ist und dabei mit seinem deutschen und deutsch-deutschen Thema auf internationalem Niveau sehr gut zurechtkommt. Sodann Wer hat Bladgen Cole umgebracht? Lebens- und Kriminalgeschichten von Eric Ambler (Diogenes), die Fortsetzung von Ambler by Ambler , ein würdiges, skeptisches, kluges und ironisches (letztes?) Buch eines der bedeutensten Autoren dieses Jahrhunderts.

Ebenfalls in der Flut der Überproduktion beinahe untergegangen: Feine Erben  von Zev Chafets (Goldmann), eine Komödie über Rhythm & Jews, über die alte und neue Mafia, über alte und neue Macht, die jeden noch so eklig grauen Wintertag aufheitern kann.

Eher zur Verdüsterung hingegen kann der neue Roman des hierzulande ebenfalls sträflich unterschätzten James W. Hall beitragen: Abgetaucht  (Goldmann). Hall ist nicht etwa nur die tragische Variante von Carl Hiaasen, obwohl die Wut beider Autoren über die Umweltkatastrophe in Florida merkwürdig analoges Thema ihrer Bücher sind. Aber Hall wird immer schwärzer und unbehaglicher. Abgetaucht ist ein teilweise unerträglich suggestives Buch (bei dem ich letztlich nicht weiß, was ich davon halten soll), und also geeignet, Weihnachtsbehaglichkeit gar nichts erst aufkommen zu lassen.

Aus England schließlich ein Geniestreich: Allein mit Shirley  von Jonathan Coe (Piper), satte 565 Seiten (48.- DM, also für den Wunschzettel) Lesevergnügen: Einer der intelligentesten Plots aller Zeiten, witzig, boshaft, sentimental und (neben Julian Rathbones Nasty, very, das nie einen deutschen Verlag gefunden hat) die profundeste Abrechnung mit dem Geist der Thatcher-Zeit. Und damit für die Neue Bundesrepublik von großem aktuellen Wert.

© Thomas Wörtche

 

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