legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 11/2020

 

Götter und Tiere Mit Götter und Tiere (Ariadne. Dt. von Karen Gerwig) ist nach mittlerweile acht Jahren der bisher fehlende 3. Roman aus Denise Minas Alex-Morrow-Serie erschienen. Die fünf Romane um Detective Sergeant Morrow, die in Glasgow Dienst tut, gehören deutlich in den Kontext des "neuen britischen Polizeiromans" (also in die Linie John Harvey, Ian Rankin, Bill James etc.), touristische Labels wie "Tartan Noir" sind da eher wenig explikativ. Zu diesem Konzept gehören u.a. ein möglichst scheuklappenfreier Blick auf die Spezifität der jeweiligen Verbrechen in einem bestimmten sozialpolitischen Umfeld, eine gewisse Skepsis gegenüber "Aufklärung" und "Polizeiarbeit" und Selbstreflexivität staatlichen Handelns. Es geht um literarische Nachbearbeitung von "Realität", und weniger um die literarische Generierung von Konzepten von Realität. So auch hier: Morrow hat es, ganz konventionell, mit drei Erzählsträngen zu tun: Mit einem blutigen rätselhaften, anscheinend aus dem Ruder gelaufenen Postraub, mit zwei Streifenpolizisten, die Schmiergeld annehmen und dann lieber zurückrudern möchten und damit in Teufels Küche kommen, und um einen Lokalpolitiker, der unbedingt den Skandal verhindern möchte, dass er ein Verhältnis mit einer minderjährigen Mitarbeiterin hat. Gut, dass Morrow einen profikriminellen Bruder hat, der die großen Zusammenhänge sieht. Streng auktorial erzählt, leuchtet Mina diverse Milieus aus, vom Subproletariat über die Kleinbürger, die korrupten Sphären von Politik und Polizei bis hin zu einem unermesslich reichen Millionär - die, schon fast in schöner demokratischer Einheitlichkeit, ihre kriminellen Aspekte haben. So entsteht eine sehr sorgfältige, vielschichtige und scharfsinnige, fiktiv verkleidete Kriminalreportage über das Glasgow des Jahres 2012 (oder 2010, je nachdem, wann das Manuskript entstanden ist). Als sehr schönes Surplus übrigens sieht man nach der Lektüre die Taxiunternehmen in Großstädten mit ganz anderen Blicken.

 

Brandsätze Im März 1991 wurde Rodney King Opfer von Polizeigewalt in Los Angeles - zufällig auf Video festgehalten. Die Polizisten (drei Weiße und ein Latino) prügelten und traten den schwarzen King beinahe tot und wurden später freigesprochen. Dieser Freispruch galt als Auslöser der "LA Riots" von 1992. Ebenfalls im März 1991 wurde die 15jährige schwarze Latasha Harlin von der koreastämmigen Soon Ja Du tödlich in den Hinterkopf geschossen, weil sie angeblich Ladendiebstahl begangen und sich gegen diese Unterstellung gewehrt hatte. Soon Ja Du wurde nicht verurteilt. Die ebenfalls koreastämmige Autorin Steph Cha benutzt in ihrem Roman Brandsätze (Ars Vivendi. Dt. von Karen Witthuhn) mit der Thematisierung dieses Skandals auch die Ursachen für die erwähnten "LA Riots" differenzierter darzustellen. Schon Mike Davis hatte in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass die Riots keinesfalls nur ein Schwarz gegen Weiß-Ding waren und schon gar nicht ein Schwarz gegen Latinos-Konflikt, wie der bei uns unverständlicherweise (oder ahnungslos) so hochgejazzte Roman "In den Straßen die Wut" von Ryan Gattis grob ideologisch verzerrend insinuierte. Die Bruchlinie lief eben entscheidend auch zwischen deklassierten Schwarzen und ökonomisch eher prosperierenden asiatischen, insbesondere koreanischen Communities. Steph Chas großes Verdienst ist, das Narrativ über die Entstehung der Riots in diese Richtung korrigiert zu haben. 2019, so setzt die Jetztzeit-Handlung ein, wird die Frau, deren Vorlage in der Realität Soon Ja Du ist, auf einem Parkplatz vor ihrer Apotheke angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Ein Racheakt für damals? Steph Cha seziert auf fiktionalem Weg zwei Familiengeschichten, die der schwarzen "Opferfamilie" und die der koreanischen "Täterfamilie", deren beider Ressentiments und Vorurteile, die Fälle naiver Benevolenz, den impliziten, ubiquitären Rassismus in einer rassistischen Gesellschaft, deren Toxik beinahe ausweglos erscheint. Auch wenn der Roman ein bisschen arg bieder gestrickt ist (die kluge Übersetzung von Karen Witthuhn hebt schon ein wenig) - in diesem Fall sind mir das Statement und die Positionierung des Buches wichtiger als die ästhetische Ausführung. Ausnahmsweise.

 

Kreuzberg Blues Das Gegenbeispiel: Kreuzberg Blues von Wolfgang Schorlau (KiWi). Zwei Parameter kann man schon mal von Anfang an aus dem Spiel nehmen. Erstens, die local knowledge - auf der Oranienstraße gibt es, weiß Schorlau, ein "kleines türkisches Restaurant namens Hasir" (das ist so wie "ein kleines amerikanisches Restaurant namens McDonald") - ist nicht sehr überzeugend. Zweitens, die Qualität der Prosa - "Lena... steckt ihr süßen Ärmchen in die Luft" - spielt auch keine Rolle. Also geht es bei "Denglers zehnten Fall" aus der Werkstatt des "Meisters des politischen Romans" (U 4) um etwas anderes - nämlich um die ungeheuerlichen Machenschaften der Immobilienwirtschaft. Menschen werden entmietet, mit rüden Methoden, weil die einschlägigen Firmen Profite machen wollen, Mietendeckel und Enteignungsszenarien sind da natürlich nicht willkommen. Und noch schlimmer: Dahinter steckt natürlich das amerikanische Großkapital, das, wenn es die Immobilien doch nicht kriegt, sich an unseren Rentenkassen gütlich tun will. Gleichzeitig will eine Abteilung des Deep States (residiert in einer Wannsee-Villa), bestehend aus stramm rechten Maaßen-ähnlichen Lemuren (einer heißt Meesen) der Sicherheitsbehörden - einschließlich BND, warum eigentlich der? - die am liebsten gewalttätige Eskalation im Lande, um Recht und Ordnung durchzusetzen. Deswegen kommen die Herrschaften auf die Idee, Coronaleugner, Esoteriker und andere Spinner dem ultrarechten Spektrum, sprich der AfD oder Schlimmerem, zuzuführen und beide "Bewegungen" zu amalgamieren. Was also sich vor aller Augen abspielt, ist eine Ranküne des Deep States. Außerdem geht es noch seitenweise und nicht unbedingt plot-notwendig um Tier-Gewalt-Porn (um Ratten-vs-Hunde-Kämpfe in Dunkeldeutschland, sprich Leipzig) und um das schlimme Leben als Waldorfschul-Kind, was zwar mit dem Plot auch nicht so recht was zu tun hat, aber schön gruselig ist. Auch erklärt wird, wie der süddeutsche, sprich Stuttgarter Typ, des Coronaleugners und Verschwörungstheoretiker so tickt. Schlimm natürlich. Und auch über das Personal dieses keinesfalls satirischen und beinhart unkomischen Szenarios lernen wir nichts Neues: Russinnen sind eiskalt und fahren schicke Autos, Autonome kiffen und haben beklagenswerte körperhygienische Standards, Schurken sind tätowiert und böse CEOs sind im Grunde und biographisch sowieso INCELs, deviante Rattenzüchter leben mit ihrer Mutter in dunklen Häusern auf dem finsteren Lande.
      Was aber heißt: Der Roman kompiliert nicht nur so ziemlich alles, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten an genretypischen Albernheiten erdacht wurde, sondern auch über Immobilien, Investoren, Politik etc. zu lesen war, und was wahrlich common knowledge ist, zu einem Narrativ des Offensichtlichen, ohne Überraschung, Clou oder Pointe. Da wird auf kein Problem "aufmerksam" gemacht, kein Missstand "angeprangert", vor keiner Entwicklung "gewarnt" und keine unterirdischen Bezüge und Konspirationen "enttarnt" (was an sich schon schlimm genug wäre), die nicht schon längst in aller Dreistigkeit offen zu Tage lägen. Der seit langem nicht mehr per se und per definitionem aufklärerische Polit-Thriller planscht schon fast wollüstig in seine eigene, größte Falle: Wenn schon die ganzen Sauereien der Zeit offen zu Tage liegen, muss anscheinend ein Narrativ her, das hinter dem evidenten Üblen noch ein größeres, schrecklicheres Übel postuliert, in diesem Fall eben der Deep State, hier putzig "Amt Fuhrmann" genannt. Damit das reale Übel nicht systemisch gesehen werden muss, sondern als Ränkespiel übelgesinnter Kreaturen, die eigentlich nur eines sind: Alberne Figuren. Womit das Geschäft der "literarischen Aufklärung" sich selbst veralbert hat. Modern Times: Als Aufklärung etikettierte Gegenaufklärung. Donald Trump hätte an dem anti-elitistischen Deep-State-Narrativ seine helle Freude, denn so wie Hilary Clinton und Bill Gates kleine Kinder schlachten, so bestimmen finstere Mächte die Geschicke der Bundesrepublik und wer stört, der wird eliminiert, ein Schicksal, dem auch Schorlaus Held Dengler zugeführt werden soll. Wenn nicht in diesem Roman, so doch als Bedrohung, die ganz gewiss als ultraspannender Cliffhanger zum nächsten Bestseller dient.

 

Heisses Blut Ein gewaltiges Epos ist Heisses Blut von Un-Su Kim (Europa Verlag. Dt von Sabine Schwenk). Eine südkoreanische Gangster-Saga, die in den 1990er Jahren in Busan, und dort in dem Hafenviertel Guam spielt. Hier hält sich der Pate, Vater Son, seit drei Jahrzehnten an der Macht, die Hauptfigur des Romans, Huisu, ist eine Art Consigliere, der aber nicht recht in der Hierarchie vorankommt und entsprechend frustriert ist. Zudem richten andere Clans ihre Begehrlichkeiten auf den Hafen von Guam - ein Krieg bricht los, bei dem jeder gegen jeden kämpft. Robust und sehr blutig, gerne auch bei sorgfältig inszenierten Festivitäten und Gelagen, während der Verzehr von Instant-Nudeln beim Fußvolk beeindruckend ist. Huisu gerät in einen Loyalitätskonflikt, Vater Son verschließt sich dem Drogengeschäft, die korrupten Politiker hängen ihr Fähnchen nach dem Wind, Verbrechen ist ein Weg des sozialen Aufstiegs, auch für Immigranten, die hier aus Vietnam, China oder den Philippinen kommen. Das kommt uns bekannt vor, aus unzähligen Mafia-Narrativen, allerspätestens seit dem "Paten". Un-Su Kims Roman ist denn auch ein gigantisches Palimpsest, bei dem alle einschlägigen Geschichten und Themen mit koreanischen Verhältnissen überschrieben werden. Mit einem entscheidenden Unterschied: Un-Su Kim kommentiert Figuren und Handlung mit einer sarkastischen, ethisch-wertenden Erzählerstimme, die jede Mythentauglichkeit der Figuren zerschreddert.

 

Heisses Blut Unter dem Pseudonym Patrick Ruell schrieb Reginald Hill 1972 den Roman "Red Christmas", der jetzt als Mord in Dingley Dell (Dumont. Dt. von Karl-Heinz Ebnet) unter seinem Klarnamen zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist. Das hört sich nach einem jahreszeitlich passenden, gepflegten Landhauskrimi an, denn auf dem namensgebenden Anwesen findet, logischerweise, eine Charles-Dickens-Reenact-Weihnachtsfeier statt, ganz so, wie in den "Pickwickier" vorgegeben. Es tummeln sich exzentrische Figuren in viktorianischen Kostümen, bis das Morden beginnt. Weil Hill den Roman als Ruell verfasst hat - dieses Pseudonym hatte er für seine Polit-Thriller benutzt - verwundert es nicht, dass allmählich eine Spionagegeschichte, wie sie nur im Kalten Krieg funktioniert hat, die Dominanz über den Roman übernimmt. War das Buch bis dahin entzückend altmodisch, wird es mit dem Auftritt der Spione und Killer genauso entzückend albern. Oder rührend naiv, wenn sich die Geheimdienstchefs des Westens von den Sowjets beim Diner mal so wegfangen lassen. Genauso rührend steinzeitlich sind die Genderverhältnisse, wenn die Topagentin sich nackt räkelt, um die Bösen zu locken. Ach ja, those were the days..., aber selbst gemessen an den zeitgenössischen Standards von le Carré, Deighton, Freemantle et al. doch eher ein überflüssiges, aber brillant geschriebenes und brillant übersetztes Werklein.

 

Amnestie Ein existentielles Dilemma treibt Danny um, die Hauptfigur von Aravind Adigas neuem Roman Amnestie (C.H. Beck. Dt. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann). Danny ist ein Tamile aus Sri Lanka, der illegal in Sydney lebt und sich als Putzmann durchs Leben schlägt. Als eine ehemalige Kundin von ihm ermordet wird, ahnt er, wer der Täter sein muss und zudem wird ihm klar, dass dieser Täter einen zweiten Mord begehen wird. Wenn Danny sich an die Polizei wendet, fliegt er als Illegaler auf, wenn er schweigt, kommt ein Mörder ungeschoren davon. Der streng strukturierte Roman, er spielt an einem Tag von 8:46h bis 19:03h, erzählt aus der Perspektive eines Außenseiters, der zudem als sri-lankesischer Tamile gleich doppelt mit seinem Minoritätenstatus leben muss. Ein Roman über die Kontextabhängigkeit von Moral, was aber dennoch nicht vor moralischen Entscheidungen bewahrt.

 

Die Zeugen Die Zeugen (Kupido Literaturverlag. Dt. von Frank Henseleit), ein eher schmaler Kurzroman des peruanischen Literaturwissenschaftlers und Borges-Spezialisten Jaime Begazo, ist ein vergnüglicher, kleiner Beleg für die oft übersehene Tatsache, dass Literatur immer auch aus und gegen Literatur entsteht. Ein echter, aber fiktiver Jaime Begazo trifft den echten, aber fiktiven Jorge Luis Borges 1986 (also kurz vor dessen Tod) in einem reichlich düsteren Genf, um mit ihm über "Emma Zunz" zu reden, eine der finstersten Geschichten aus Borges' Zyklus "Das Aleph". In dieser Story fällt einmal, anscheinend an marginaler Stelle, der Name Milton Sills. Bis auf diese eine Stelle war von Milton Sills nie die Rede, und er wird auch nie wieder erwähnt werden. Auch im Gesamtwerk von Borges gibt es ansonsten keinen Milton Sills. So gesehen ist "Milton Sills" recht eigentlich ein "unnützes Detail" im Sinne von Roland Barthes, durch das einerseits die übrigen, funktionalen Elemente einer Erzählung zusammengehalten werden und durch die andererseits der "rätselhafte Charakter jeder Beschreibung" hervortritt. Die Figur Emma Zunz in Borges Geschichte rächte sich grausam an dem Mann, der ihren Vater in den Tod getrieben hatte. Sie entwirft einen minutiösen Plan, um mit dem Mord ungestraft davonzukommen und sichert sich, sozusagen, ethisch-moralisch ab - mit einem für sie extremen "Opfer", das - ganz im Einklang mit dem Kosmos von Borges - eher bizarr anmutet. Irritiert über die beiden Wörter "Milton" und "Sills" und eine literaturhistorische Sensation erhoffend, versucht der Begazo des Romans eine ganz neue Geschichte über Emma und eben jenem unbekannten Mann aus dem vorgeblich zögerlichen Roman-Borges beinahe inquisitorisch herauszufragen. Borges weicht aus, spricht in Rätseln, wie man es von ihm erwarten kann, bevor er peu à peu die Emma-Zunz-Geschichte als von ihm persönlich erlebte Episode in Buenos Aires erzählt, die er, zusammen mit seinem Bekannten Milton Sills, der ein glühender, wenn auch schüchterner Verehrer von Emma ist, beobachtet haben will. Borges als Realist? Der Großmeister der fiktionalen Labyrinthe erzählt eine schmutzige, naturalistische Geschichte aus dem Hafen- und Arbeitermilieu am Rio de la Plata? Und lässt dann nur noch als Beglaubigungszertifikat den Namen "Milton Sills" übrig? Hat Borges den aufdringlichen und ehrgeizigen Exegeten Begazo, der einen Coup in der weltweiten Borges-Auslege-Industrie landen will, an der Nase herumgeführt? Wie schön also, dass auch in diesem Fall "Eindeutigkeit" und "Borges" nicht zusammen gehen, egal, wie man's dreht und wendet. Insofern ist "Die Zeugen" eine Art Kriminalroman zweiter Ordnung. Und so etwas macht einfach Spaß, wenn es so gut gemacht ist wie hier.

 

Kalmann Nur ein paar Kilometer vom Polarkreis entfernt liegt im Nordosten Islands das Dorf Raufarhöfn. Früher war die Gemeinde ein lebhafter Umschlagplatz für den Heringsfang, heute hat der Strukturwandel das Dörfchen ausgeblutet, bald wird die Schule schließen, denn nur ganze 175 Einwohner sind übriggeblieben. Am Ende von Joachim B. Schmidts Roman Kalmann (Diogenes) sind es noch 173. Kalmann Óðinsson, die titelgebende Hauptfigur, wacht über sein Dorf, ausgerüstet mit Cowboyhut, Sheriffstern und einer Mauser aus dem Koreakrieg. Als Kalmann eine Blutlache findet und der ortsansässige Hotelier und Unternehmer verschwindet, kommt Leben in die abgelegene Gegend. Die Polizei taucht auf, Drogen werden aus dem Wasser gefischt und zudem könnte ein hungriger Eisbär, von Grönland herübergeschwommen, sich gefährlich nahe an Raufarhöfn tummeln.
      Der Schweizer Autor Joachim B. Schmidt, der selbst seit dreizehn Jahren auf Island lebt, präsentiert, so gesehen, das ideale Setting für einen klassischen Island-Krimi, oder neudeutsch: Nordic Noir. Bizarre Details wie eine Menschenhand im Magen eines erlegten Hais, dubiose litauische Menschen, die sich an den Rändern der Handlung tummeln sowie ein weiterer rätselhafter Todesfall, der mit dem Verzehr von Gammelhai zu tun haben könnte, verstärken diesen Eindruck noch. Aber die Geschichte wird uns von Kalmann erzählt. Der ist ein wunderlicher Mensch, böse Zungen bezeichnen ihn als den "Dorfdepp", was entschieden nicht stimmt. Kalmann ist nicht nur ein geschickter Haifischer (und produziert den "zweitbesten Gammelhai auf Island": gewöhnungsbedürftiges, fermentiertes Haifleisch), Jäger und Spurenleser, sondern auch ein entfernter Verwandter von John Irvings "Garp" oder Forrest Gump, also ein extrem subjektiver Ich-Erzähler, der ganz eigene Wahrheiten und Einsichten in den Lauf der Welt anbietet. Schmidt benutzt dafür die literarische Technik des "skaz" - also die hochliterarische Verschriftlichung anscheinend naiven mündlichen Erzählens, bei dem wir über den Wahrheitsgehalt des Erzählten nur das wissen können, was durch den Filter von Kalmanns Weltbild durchdringt. Dabei wissen wir auch nicht, was er verschweigt. Und wir wissen nicht, wie naiv Kalmann wirklich ist und können nur spekulieren, ob er leicht retardiert ist oder einfach nur ein sehr origineller Kopf.
      Das berührt eine Kernfrage des Kriminalromans an sich. Denn der muss ja, um eine Realität hinter der Realität aufdecken zu können, eine stabile erste Realität etablieren. Das tun Kalmann, der Roman, und Kalmann, die Figur, gerade nicht. Zumindest nicht bis zu dem Punkt, an dem Kalmann selbst enthüllt, was es mit dem verschwundenen Hotelier auf sich hat. Auch diese Enthüllung steht dann natürlich unter dem grundsätzlichen Vorbehalt der Erzählperspektive. Das ist sehr tricky gemacht und bietet, neben grandiosen Vignetten über das Leben in einem gottvergessenen Winkel der Welt, über die raue Natur und über die Menschen, die dort ausharren, ein erhebliches intellektuelles Vergnügen. Kalmann ist ein großartiger Nicht-Kriminalroman, der, weil in der Negation das Negierte bestehen bleiben kann, dennoch ein großartiger Kriminalroman ist.

 

Spion ohne Grenzen Bodo V. Hechelhammers Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe. Agent in sieben Geheimdiensten (Piper) rekonstruiert das Leben des Mannes, der eines der größten Desaster des Bundesnachrichtendienstes war. Tatsächlich schaffte es Felfe, für den Sicherheitsdienst (SD) der Nazis zu arbeiten, für den MI6, für den KGB, für die Organisation Gehlen, also den späteren BND, für die Vorläuferorganisation des VS und für die Stasi auch. Vom SS-Obersturmführer zum Professor für Kriminalistik an der Humboldt-Uni (bis 1991), das ist schon eine Karriere. 1961 wurde Felfe als "Leiter der Gegenspionage Sowjetunion" im BND enttarnt und ins Gefängnis gesteckt, aber schon 1969 vom KGB ausgetauscht und lebte, bis zu seinem Tod am 8. Mai 2008 ("Tag der Befreiung", welch hübsche Ironie) in Ost-Berlin. Felfe war der absolute Anti-Glamour-Spion, ein unauffälliger, eher sauertöpfischer Spießer, geldgierig ohne Ende, nach oben buckelnd, nach unten tretend, aber wenn nötig auch dreist und fordernd, wenn's der Vorteilnahme diente. So quälte Felfe nach seiner Umsiedlung in die DDR die Stasi bis aufs Blut mit Sonderwünschen für sein (relatives) Luxusleben, wohl wissend, dass er vom KGB gedeckt wurde. Denn für den KGB war Felfe der Propagandacoup überhaupt, schon beinahe auf dem Niveau der Cambridge Five. Felfe steht natürlich auch für die Kontinuität der Nazi-Strukturen über die "Organisation Gehlen" bis zum BND, die Hechelhammer (im Hauptberuf Leiter des Historischen Büros des Bundesnachrichtendienstes) mit unfasslicher Materialfülle nachzeichnet, kein Ruhmesblatt für die Sicherheitsarchitektur der BRD. Aber nix für Verschwörungstheoretiker: Felfe war genauso überzeugter Nazi wie er überzeugter Kommunist war und dabei voll auf dem Boden des bundesdeutschen Grundgesetzes stand, falls erforderlich. Geltungsdrang, gnadenloser Opportunismus, bürokratische Virtuosität, moralische Indolenz und Gier, eine Kombination, mit der man vermutlich sehr weit kommen kann. Egal, wann und wo. Insofern ist Hechelhammers Felfe-Porträt auch ein beklemmendes Porträt des systemoptimierten Menschen und damit ziemlich aktuell.

 

Helden Die westliche Zivilisation, so sagt man gerne, basiert im Wesentlichen auf der Antike. Reden wir hier aber nicht von edler Einfalt und stiller Größe und auch nicht vom Hort der Demokratie oder ähnlichen ersprießlichen Dingen, sondern reden wir von abgeschnittenen Geschlechtswerkzeugen, blutgierigen Monstern, beklagenswerten Schändungen, Meuchelmorden galore, zoophilem Schweinskram, irren Vatermördern, brandschatzenden Heroen, fiesen Giftmorden, Kannibalismen, Inzest, Marter und Folter, Eifersucht und Rache. Und schon sind wir bei den Quellen unserer Zivilisation angekommen, bei ihren Mythen und Sagen, denen wir noch heute auf Schritt und Tritt begegnen - vor allem in den sich so originell dünkenden Serialkiller-Narrativen, in Slasher-Orgien und anderen Hervorbringungen der Populären Kultur. Damit niemand mehr sagen kann, das habe er/sie aber nicht gewusst und schließlich sei es eine Zumutung, die Texte von Homer, Ovid, Hesiod und Co. zu lesen ("dieser Schreibstil gefällt mir nicht"), hat sich Stephen Fry die Mühe gemacht, ach wo, das Vergnügen gegönnt, diese Basis unserer Kultur nachzuerzählen: Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt (Aufbau. Dt. von Matthias Frings). Der Kontrast zum Hohen Ton, den ich Bildungsbürger bei Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" (1838-1840; damit ist noch meine Generation in den 1960s aufgewachsen) so kreuzkomisch fand, könnte nicht größer sein. Fry plaudert locker, natürlich sprachlich aktualisierend und oft ironisch kommentierend (natürlich kann er sich z.B. bei der Nummer von Zeus mit Danaë - Sie wissen schon, der Goldregen - den zarten Hinweis auf eine Golden Shower nicht verkneifen), aber stets quellensicher und vor allem seinen Gegenstand ernst nehmend. Das ist wichtig, denn es geht tatsächlich um die Motivgeschichte nicht nur der Populären Kultur, sondern um die tief in die Menschheitsgeschichte eingeschriebene Gewaltkultur. "Helden" ist übrigens der zweite Teil einer Trilogie: "Mythos" hieß der erste Band, "Troy" (gerade auf Englisch erschienen) wird den 3. Teil ergeben. Sollte man schon kennen...

 

Hitchcock - Alle Filme

Die Filme von Alfred Hitchcock kennen wir alle, naja, fast alle - die Duschszene in "Psycho", die Dalí-Landschaft in "Spellbound", der Flugzeugangriff in "North by Northwest", der Krawattenmord in "Frenzy" und die Attacken in "The Birds", um nur ein paar Szenen zu nennen, die sich vermutlich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. Aber natürlich kennen wir nicht alle Hitchcock-Filme, die frühen, britischen Produktionen zum Beispiel haben es nicht zu globaler Präsenz gebracht, und auch seine erstaunlich vielen Arbeiten fürs Fernsehen kann man noch entdecken. Gut also, dass Hitchcock - Alle Filme von Bernard Benoliel, Gilles Esposito, Murielle Joudet und Jean-François Rauger (Edition Delius, Dt. von Sina de Malafosse, Sarah Pasquay und Melanie Köpp) ein verlässliches Kompendium zum schnellen Nachschlagen ist. Die Filme sind jeweils knapp kommentiert, meistens mit Entstehungsgeschichte und Rezeptionsbackground versehen. Dazu Fun Facts, glücklicherweise wohl dosiert, und Kontexte in extra Kapiteln: "MacGuffin", "Mama! - Die Hitchcock'schen Mütter", Bernard Herrmann" etc. Und natürlich Fotos galore, Bibliographie, Register (sehr sinnvoll), prallvoll. Die - auch glücklicherweise nicht sehr ausschweifenden - Exegesen sind zumindest alle diskutabel, nur die Ungeschicklichkeit Hitchcock im Text immer "der Cineast" zu nennen, nervt ein wenig. Anyway, ein schönes Handbuch, nützlich und gut.
      Ob Unnützes James Bond Wissen von Danny Morgenstern (CrossCult) nicht in der Tat unnütz ist (ach, diese Koketterie), mag ich nicht entscheiden. Müssen wir wissen, dass James Bond in "Diamantenfieber" sechsmal am Golden-Nugget-Casino vorbeifährt? Oder dass "Skyfall" der Film ist, in dem 007 "am häufigsten die Hände in der Tasche hat"? Immerhin offeriert das Bändchen über 2500 solcher "Fakten", die, wenn auswendig gelernt, sicher ausreichen, beim (virtuellen) Small Talk als Experte durchzugehen. Und das hebt dann auch sehr schön...

 

© Thomas Wörtche, 2020

 

« Leichenberg 07/2020       Index       Leichenberg 02/2021 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen