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Leichenberg 11/2017

 

Das Vermächtnis der Spione

John le Carrés neuer Roman, Das Vermächtnis der Spione (Ullstein) ist nach immerhin vierundfünfzig Jahren das Prequel zu dem Buch, das ihn weltberühmt gemacht hat: »Der Spion, der aus der Kälte kam«. Das spricht zunächst einmal für ein robustes Selbstbewusstsein und ein fast rührendes Vertrauen in das Lesepublikum, denn der neue Roman setzt die Kenntnis des alten als selbstverständlich voraus. Und nicht nur das: »Der Spion, der aus der Kälte kam« war ja nur ein Stückchen der Saga um George Smiley, das wunderliche Genie des "Circus" genannten britischen Auslandsgeheimdienstes auf der Jagd nach dem Maulwurf Bill Haydon und dem Gegenspieler des MI 6 im Kalten Krieg, ("Karla"), die sich durch mehrere Romane zieht - deswegen erhöht sich die Freude an der Lektüre, wenn man alle kennt.
      Le Carré setzt den neuen Roman damit in Gang, dass Alec Leamas, der an der Berliner Mauer 1963 erschossene Spion, einen Sohn hatte. Der tut sich mit der Tochter der damals ebenfalls umgekommenen Liz Gold zusammen - eine unschuldige, idealistische Bibliothekarin, die unfreiwillig in das Ränkespiel der Geheimdienste hingezogen wurde. Die beiden wollen den heutigen MI 6 öffentlichkeitswirksam verklagen, weil der den Tod der beiden wissentlich, wenn nicht sogar billigend in Kauf genommen hat - aus eher unappetitlichen Gründen einer machiavellistischen Staatsräson. Der neue Geheimdienst, der jetzt nach seinem neuen Prachtbau an der Themse "The Box" heißt, möchte allerdings keine Schmutzflecken auf seiner Weste haben, gerade heutzutage nicht. Weil George Smiley verschwunden scheint (überhaupt darf man es mit der Zeitstruktur nicht allzu ernst nehmen), greift sich die Rechtsabteilung des MI 6 dessen treuen Paladin, Peter Guillam, aus dessen Perspektive wir die ganze Vorgeschichte um Alex Leamas erfahren. Der Kalte Krieg lebt wieder auf, in seiner ganzen Tristesse, in seiner Paranoia, in seinem effektiven, aber völlig skrupellosen Denken und seiner Brutalität.
      Unschlagbar ist le Carré immer noch in der Eleganz seiner Dialoge, dem artifiziellen Geheimdienst-Jargon, der ein eigenes sprachliches Universum aufmacht (glänzend getroffen von Peter Torberg) und in der Virtuosität, mit dem jeder Satz drei- und vierfach kodiert ist. Sprache als Desinformation, aber ungemein kommunikativ. Das ist ein Punkt, der brandaktuell ist.
      Und le Carré wäre nicht le Carré, wenn »Das Vermächtnis der Spione« nur eine nostalgische oder selbstreferentielle Veranstaltung wäre. Im Gegenteil. Der Roman sitzt ganz fest im Hier und Jetzt. Nicht nur Smileys flamboyantes, wenn auch böse vergiftetes Plädoyer für Europa - oder spricht da le Carré selbst? - am Ende des Buches belegt das, sondern vor allem das Hauptthema: Was bleibt von den berühmten westlichen Werten übrig, wenn man sie auf Kosten von Ethik und Moral verteidigen zu müssen glaubt? Insofern ist »Das Vermächtnis der Spione« auch ein Roman über die Ursünden, die einen gewissen moralischen Relativismus möglich gemacht hat, der uns heute erst recht wieder auf die Füße fällt.

Der Mordida-Mann

Brillant auch Ross Thomas' Der Mordida-Mann (Alexander Verlag). Die alte Ullstein-Fassung war bis zur Unverständlichkeit verstümmelt, jetzt können wir eines der besten, vor allem eines der gemeinsten Bücher von Ross Thomas endlich auf Deutsch lesen. Der Plot über die, sagen wir, prekären Beziehungen der USA zu Libyen (Gaddafi ist noch im Amt, hier heißt er nicht Gaddafi, der in der Fiktion tot ist und eine Art Klon als Nachfolger hat) ist extrem fies. Die Handlung spielt so um 1980 herum, Jimmy Carter, der hier nicht Jimmy Carter heißt, ist gerade noch im Amt, als sein Bruder, der hier nicht Billy heißt, von Terroristen im libyschen Auftrag entführt wird. Auftritt Chub Dunjee, eine durchaus opake Gestalt aus dem unerschöpflichen Thomas'schen Reservoir der moralisch diffusen Go-Betweens zwischen allen offiziellen politischen Formationen, der diesen Bruder, egal, was es kostet, wiederbeschaffen soll. Natürlich geht es dabei letztendlich um Öl und Waffen, um politischen Opportunismus, um blanke Gier und andere moralische Unappetitlichkeiten, die die "Terroristen" schon fast als aufrechte Moralisten dastehen lässt, die gegen die ausgefeilten Intrigen und Machinationen aller beteiligten Parteien ziemlich naiv wirken und, ähnlich wie bei Jean-Patrick Manchettes »Nada«, bei allem bescheuerten Omnipotenz-Wahn gegen die Realpolitik nicht den Hauch einer Chance haben. Der ganze elegante Roman ist imprägniert von Ross Thomas' radikalem Sarkasmus und seinem eisigen Witz, der durchaus intentional, eine der übelsten Tötungsszenen enthält, die ich kenne. Natürlich ganz beiläufig und deswegen so ultrahart. Überhaupt ist der Roman ein Exerzitium in tiefschwarzem Understatement, in toxischer Höflichkeit und diabolischer Intelligenz. Ross Thomas verätzt mit diesen Werkzeugen wollüstig so ziemlich alles, was Sinnsuchern lieb und heilig ist. Grandios.

Krasse Killer

Verglichen mit Ross Thomas' schlanker und präziser Erzählökonomie, werden die Macken von Joe R. Lansdales Krasse Killer (Golkonda) noch deutlicher: Dieser ich-weiß-nicht-wievielte Hap & Leonard Roman leidet unter Geschwätzigkeit und überhaupt unter too much: Too much Gemetzel, das dann nur noch langweilt, too much Skatalogischem und too much dauererektilem Machismo. Die Botschaft haben wir ja längst verstanden und sympathisieren sogar damit. Es kann sinnvoll sein, dem lustfeindlichen, prüden und hygienewahnsinnigen Amerika krasse Körperlichkeit entgegenzusetzen, dem "guten Geschmack" mit einem Eimer voll "schlechtem Geschmack" zu Leibe zu rücken - alles klar, alles okay. Aber Lansdale suhlt sich allzu redundant in Blut, Scheiße und anderen Ekligkeiten, die dadurch jeden Effekt verlieren und die an sich schon dünne Story - Hap und Leonard suchen eine verschwundene junge Frau und müssen ein ganzes Nest megaböser Hinterwäldler (natürlich inzestuös und ungewaschen) ausrotten - auch nicht origineller machen. Ermüdend auch, wie sich die Männchen permanent auf die Brust trommeln und "Wer-hat-den-Längsten" spielen, was, auch das haben wir verstanden, ein Statement gegen blöde Spielarten von politischer Korrektheit sein soll. Aber weil Lansdale dann mit seinem männerbündlerischen Buddy-Pathos jede Ironie niedertrampelt, bleiben davon nur heiße Luft und öde Dumpfheit. Naja, vielleicht ist auch die Hap & Leonard-Formel endgültig ausgeleiert und schal geworden und hält sich nur noch als Beiwerk zur TV-Serie. Auf jeden Fall kann Lansdale mehr, viel mehr.

Nach uns die Pinguine

Dabei können ironische Spielereien so schön sein. Zum Beispiel Nach uns die Pinguine. Ein Weltuntergangskrimi (Galiani) von Hannes Stein. "Seit jenen betrüblichen Ereignissen, über die wir ungern reden" hat sich die Menschheit beinahe ausgerottet, nur ein paar winzige Gebiete sind wundersamerweise verschont geblieben, darunter auch die Falkland-Inseln (jaja, Las Malvinas), wo man einen strikt britischen Lebensstil zwischen Gouverneurspalast, Victory Bar und Margaret-Thatcher-Drive führt, als sei nichts passiert. Weil aber zu den Auswirkungen "jener betrüblichen Ereignisse" auch gehört, dass keine Kinder mehr geboren werden, wird die Lage allmählich prekär. Und in diesen kritischen Zeiten wird der nette Gouverneur in seinem Palast ermordet und weil die Gesellschaft, in der wir uns befinden, eine Art Retro-England ist, ist dieser Mord ein klassisches Locked-Room-Mystery. Aber das ist nur der Ausgangspunkt für eine nette Dystopie-Satire, die sich über die zeitgeistigen Weltläufte lustig macht und als Clou dann einen benevolent gewendeten israelischen Kapitän Nemo mit seinem U-Boot auftauchen lässt - und alles wird gut. Intelligent, leichtfüßig, unterhaltsam. Mit einem Manko: Zu wenig Pinguine!

Der Sonnenschirm des Terroristen

Ein spannender Roman ist Der Sonnenschirm des Terroristen (Cass) von Iori Fujiwara (1948 - 2007). Das hübsche Marketing-Narrativ, demzufolge Fujiwara das Buch nur geschrieben habe, um die Kohle für den prestigeträchtigen Edogawa-Rampo-Preis abzugreifen, um seine Wettschulden zu bezahlen, mag sogar stimmen. Naja, er hat ihn gewonnen, und zwar völlig zu Recht. »Der Sonnenschirm des Terroristen« ist ein Roman über Tokio "von unten", aus der Perspektive von Obdachlosen und anderen Außenseitern der Glitzermetropole und ein Roman über die militante Linke der 70er Jahre und schließlich ein Buch über Wirtschaftsmacht und deswegen unausweichlich auch über die Integration der Yakuza in die ansonsten konformistische japanische Gesellschaft. Tonfall und Gestus orientieren sich am Hardboiler, die Hauptfigur ist ein untergetauchter Ex-Radikaler, dem man ein Bombenattentat vorwirft, das er damals, vor Jahrzehnten nicht begangen hatte, und der ironischerweise in ein sorgfältig inszeniertes Bombenattentat in der Jetztzeit gerät - Jetztzeit ist ca. 1993 - der Roman erschien im Original 1995 (dies ist die erste deutsche Übersetzung), ist aber sehr gut erhalten. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, er muss seine Unschuld beweisen, die von heute und die von damals, weil beide Anschläge einen inneren Zusammenhang haben. Das ist sehr clever gemacht, transportiert eine Menge Innenansichten eines etwas anderen Japans und funktionalisiert das Re-Writing eines westlichen Musters sehr kreativ. Das ist nicht nur historisch interessant.

Fiona. Als ich tot war

Joseph Wambaugh hat einmal gesagt, »Der Spion, der aus der Kälte kam« sei der perfekte Undercover-Roman und Robert Littell hatte mit »Die kalte Legende« die psychologischen Belastungen von Menschen, die mit mehreren Identitäten leben und überleben müssen, zu einem thematischen Klassiker gemacht. In diese Tradition gehört Harry Binghams Fiona. Als ich tot war (Wunderlich). Werkchronologisch ist das der 3. Band der Fiona-Serie, die nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen, sie auf dem deutschen Markt zu etablieren, jetzt am Anfang eines gesamten Fiona-Relaunches steht. Fiona Griffiths ist Detective Constable in Cardiff in Süd-Wales, hat einen veritablen Gangster zum Vater und leidet am Cotard-Syndrom (Cotard-Patienten meinen, sie seien tot und entwickeln ein sehr seltsames Verhältnis zu Emotionen). Das wiederum wendet sie produktiv und lässt sich hier auf ein hochgefährliches und komplexes Undercover-Spiel ein, mit dem eine sehr professionelle und völlig skrupellose Bande von Finanzmanipulatoren aus dem Verkehr gezogen werden soll. Aus Fiona Griffiths wird Fiona Grey, eine vorbestrafte Buchhalterin, die auch als Putzfrau jobbt, was Fiona Griffiths sehr gut gefällt. Und aus Fiona Griffiths wird dann noch Jessica Taylor, eine blondierte, miniberockte, laute und schrille Schlampe mit Sex-Appeal. Mit Jessica können Fiona Grey und Fiona Griffiths nicht viel anfangen, aber sie müssen nun mal zu dritt kooperieren, wenn sie ihren Auftrag erfüllen wollen. Das ist exzellent konzipiert, unfasslich spannend gemacht und lebt von dem hochkomplexen Wesen Fiona, von ihrem faszinierenden und manchmal verstörenden Oszillieren zwischen Empathie für tote Opfer und völlig fehlender Empathie für viele lebende Zeitgenossen, die sie manchmal sogar sexy finden kann, aber kein Problem damit hat, sie abzuräumen. Bingham erzählt strikt aus dem Kopf von Fiona heraus und schafft damit eine Art Triple-Porträt einer einzigen Person. Das ist kühn und es gelingt bestens. Ebenso erfreulich ist, dass der Plot - die Jagd auf die mörderischen Finanz-Gangster - nicht nur Hintergrund für das psychologische Experiment ist, sondern per se eine robuste und sehr interessante Geschichte davon erzählt, was man mit IT so alles treiben kann. Spitzenklasse.

Nick Cave. Merci on Me

Nick Cave ist bekanntlich ein wandelndes Noir-Narrativ, was nicht nur mit seinen expliziten "Murder Ballads" zu tun hat. Diesen Noir, weniger als Genre, sondern als Stil, Gestus und Inszenierung begriffen, hat Reinhard Kleist in zwei gewichtigen Bänden perfekt umgesetzt. In die Graphic Novel Nick Cave. Merci on Me und das Artbook Nick Cave & The Bad Seeds (beide Carlsen). Der biographische Comic ist, noir-typisch, fraktalisiert, nicht linear erzählt, zwischen Realitätsebenen pendelnd, verschiedene erzählerische Grammatiken benutzend, und völlig auf die Kraft der Bilder zentriert. Er erzählt nicht, wer oder was Nick Cave ist, sondern bietet unterschiedliche Perspektiven auf die düstere Welt, wie sie Nick Cave in allen seinen künstlerischen Manifestation entworfen hat, an. Noch zersplitterter ist naturgemäß das Artbook, das aus Skizzen, Entwürfen oder funktionalen Blättern besteht - oder eben eine "fremde" Geschichte aus dem Geist von Nick Cave erzählt, wie die Umsetzung des klassischen Murder-Songs "Stagger Lee". Kleist kreist um sein Thema, mit dem er sich jahrzehntelang beschäftigt hat und dem er immer wieder neue Aspekte abgewinnt. Man könnte sagen: Er hat Cave ikonographiert. Hier passt sogar das abgelutschte "kongenial".

Ein extrem nützliches und dabei kompaktes Handbuch ist das von Paul Duncan und Jürgen Müller herausgegebene Film Noir (Taschens Biblioteca Universalis). Kurze, kompetente Texte zu den wichtigen Filmen dieser Strömung (ein wenig USA-lastig, aber nu...), zu den entscheidenden Regisseuren, mit vernünftigen Kontextualisierungen und vor allem mit vielen, vielen Bildern und illustrativen Zitaten. Geordnet nach Themen, nebst einer Top 50 Liste von 1940 - 1960. Nix Neues zwar (und aus anderen Taschen-Büchern zum Thema klug kompiliert), aber das, was man schlicht faktisch schon wissen sollte, 650 Seiten für sagenhafte 14,99. Ideale Einstiegslektüre.

 

© Thomas Wörtche, 2017

 

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