legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 10/1998

 

Man kann fast die Uhr danach stellen: Wenn ausgewiesene Hochliteraten sich runterbeugen zum "Kriminal" kommt nur manchmal Literatur, aber bestimmt keine Kriminalliteratur dabei raus. Diesmal hat der Brite Martin Amis sich heruntergebeugt und erzähltechnisch gar in eine Frau verwandelt: In eine Polizistin, ein ganz hartgesottenes Luder, auch noch Amerikanerin (vermutlich zu Seattle), die einen Selbstmord einer Bekannten zu bearbeiten hat. Wirklich einen Selbstmord? Dazu versucht sich besagte Polizistin in das Opfer hineinzuversetzen. Wem das jetzt aus Derek Raymonds "Ich war Dora Suarez" bekannt vorkommt, liegt durchaus richtig. Aber Amis' Roman Night Train  (S. Fischer) ist nirgends so gewalttätig, nirgends so wuchtig, nirgends so verzweifelt wie Raymonds opus magnum, und deswegen auch kriminalliterarisch kein bißchen interessant. Nur-literarisch auch nicht. Einfach formales Durchexerzieren von vermeintlichen "Genrestrukturen". Dumm gelaufen.

Dumm gelaufen auch Thomas Perrys Die Hüterin der Spuren  (Serie Piper). Das ist in diesem Fall wirklich ärgerlich, weil Perry anundfürsich sehr schön abgedrehte Romane schreiben kann und auch wieder eine wunderbare Figur erfunden hat: Jane Whitefield, die professionell Leute "verschwinden" läßt und mit neuen Identitäten für ein neues Leben ausstattet. Was hätte man daraus alles machen können! Das erste Kapitel läßt noch aufs Schönste hoffen, aber dann stürzt der Roman über lange Sequenzen hinweg so in Indianer-Mystifax und Outdoor-Fidelwipp ab, daß man jede Lust verliert und sich nur wünscht, der Schurke sei schon hundert Seiten früher erlegt und damit basta.

Jenseits des Ärgerlichen, im Nur-Katastrophalen siedelt Top Job  von Jason Starr (Diogenes), ein aufs Blödeste ver-yuppie-ter Büroroman, der dann unbedingt in schickem Symbolismus enden muß. Unglaubwürdig, extrem langweilig und ganz grob falschverstandenen Vorbildern des roman noir  nachgehäkelt: Junger Mann mordet versehentlich, muß immer weiter morden und wird am Ende verkrüppelt, auch versehentlich. Wie man dagegen aus den Tücken der modernen Industriegesellschaft, aus den Grausamkeiten, die die shareholders values  Menschen antun, einen ganz radikalen, salzsäureklaren, dabei grimmig-satirischen und erklecklich bösartigen Roman machen kann, beweist Donald Westlake (auch als Tucker Coe oder Richard Stark bekannt und beliebt): Der Freisteller  (Europa Verlag) ist ein hochaktueller und lupenreiner roman noir, der ohne nostalgische Zutaten auskommt. Ein Krisenroman über eine kaputte Gesellschaft, deren positive Wirtschaftsdaten und deprimierende sozialen Realitäten schreiend auseinanderklaffen. Und so greift ein gerade "freigestellter" Ingenieur zur Knarre und erarbeitet sich mit Initiative, Einsatz und Engagement einen neuen Arbeitsplatz. Leistungsbezogenes Denken zahlt sich eben aus. Wieder einmal nimmt Genreliteratur sich die Themen vor, vor denen die "Hohe Literatur" schaudernd die Augen schließt.

Den bösen Blick nie verloren hat der große britische Schriftsteller James Graham Ballard, auch wenn und gerade weil seine Texte immer weniger einzuordnen sind. Weißes Feuer  (Goldmann) oszilliert zwischen Kriminalroman und philosophischem Traktat über die soziale Rolle des Verbrechens in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die Ballard als "hirntod" versteht. Seine Schlüsse sind nicht schön, edel oder gut, aber spannend, plausibel und realitätstüchtig. Als Dystopiker ist er unschlagbar. Ich kenne seit den 70ern keinen Text, in dem er nicht recht gehabt hätte.

© Thomas Wörtche

 

« Leichenberg 09/1998 zurück zum Index Leichenberg 11/1998 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen