legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 10/2012

 

Rocking Horse Road

Viel Kriminalliteratur aus Neuseeland gibt es nicht. Zumindest nicht viel übersetzte. Oder solche, die direkt mit Neuseeland zu tun hätte. Das Problem ist schon fast historisch. Ngaio Marsh, eine der großen drei (neben Agatha Christie und Dorothy Sayers) Ladies des Golden Age war Neuseeländerin, aber das tat nie irgendwas zur Sache. Heute ist Neil Cross - der Erfinder und Autor der Luther-Romane und der gleichnamigen BBC-Serie - befremdlicherweise Träger des neuseeländischen Krimi-Preises, der, natürlich, Ngaio Marsh-Award heißt. Fast genauso wenig haben die routinierten, ansonsten nicht weiter erwähnenswerten Serial-Killer-Schmöker von Paul Cleave mit dem Inselstaat zu tun, auch wenn sie in Christchurch spielen. Wirklich bemerkenswerte Kriminalliteratur bietet nur Carl Nixons Roman Rocking Horse Road (Weidle Verlag) - und zwar vom Feinsten. In den frühen 1980er Jahre, in denen das weiße, kleinbürgerliche Neuseeland sich so angefühlt haben muss, wie bei uns die frühen 1960er Jahre, geschieht in einer Suburb von Christchurch ein sehr rätselhafter Mord an einem allseits beliebten Mädchen. Zudem bauen sich politische Spannungen auf, als das südafrikanische Rugbyteam durch Neuseeland tourt und nolens volens das Apartheid-Regime präsentiert. Dagegen gibt es politischen Widerstand, der von den weißen Neuseeländern als Angriff auf ihren beliebten Nationalsport begriffen wird. Eine Gesellschaft erwacht aus ihrer Ruhe, Gewalt bricht ein - im Nahbereich und im größeren Maßstab. Davon lässt Carl Nixon eine raffiniert inszenierte, polyphone Erzählinstanz berichten, die nicht auf einzelne Figuren reduziert werden kann und insofern in der Tat kollektive Traumata artikuliert. Genauso unkonventionell tickt der ganze Roman, der ein brillantes Panorama gesellschaftlicher "Normalität" und deren Neurosen zeichnet.

Underground

Um die gefährlichen Neurosen der US-Gesellschaft nach 9/11 geht es auch in Lee Childs Roman Underground (Blanvalet) für dessen Übersetzung sich der Verlag skandalöse drei Jahre Zeit gelassen hat. Statt zu kapieren, dass Childs Figur Jack-Reacher kein fröhlicher Schlagetot ist, sondern ein klar politisches Profil hat, möchte man vermutlich lieber auf Action-Fans setzen, denen präzise Kontexte nicht so wichtig sind. Aber alleine die Anfangssequenz über eine mutmaßliche Selbstmordattentäterin in der New Yorker U-Bahn ist grandios, das Panorama, das Child dann im Laufe des Romans aufzieht, in seiner coolen Beiläufigkeit beklemmend. Der Roman geht bis zurück zu den Sündenfällen einer sehr zynischen und überheblichen US-Politik (Stichwort Kalter Krieg und Afghanistan) und schildert in klaren Zügen ein paar unschöne Konsequenzen.

Verdammte Deutsche!

Am Vorabend des Ur-Sündenfalls des 20. Jahrhunderts, also des 1. Weltkriegs lässt Gerhard Seyfried seinen Spionageroman Verdammte Deutsche! (Knaus) spielen. Es geht um die noch sehr amateurhaften und naiven Versuche der beiden Großmächte Großbritannien und Deutschland, Geheimdienste zur Ausspähung ihrer jeweiligen Fortschritte beim Flottenwettrüsten aufzubauen. Ich weiß nicht, ob man einen Spionageroman "gemütlich" nennen darf, was ich aber positiv meine: Seyfried erzählt gemächlich, hat wirklich erstklassig recherchiert (jaja, wenn man keinen Sinn dafür hat, könnte man es Infodump nennen, aber das wäre ungerecht) und baut auch noch ein paar nette Hommagen an die frühen Politthriller von Erskine Childers bis William Le Queux ein, wobei letzterer auch ein historisch korrekte, unappetitliche Rolle spielt.

Das schwarze Korps

Einen Weltkrieg später spielt Dominique Manottis Das Schwarze Korps (Ariadne), in den letzten Tagen der deutschen Besatzungszeit von Paris, als alle ihre Felle davon schwimmen sehen - vor allem die französischen Mitglieder der Gestapo - ein Thema, das spätestens seit den Romanen von Patrick Modiano und Louis Malles Film "Lacombe, Lucien" von 1974 zum guten Standard der französischen Crime Fiction gehört - Manottis hartgeschnittenener, analytisch-scharfer Prosa geht es jedoch um noch nicht abgeschlossene Diskurse: "Erzählen heißt Widerstand leisten", schreibt sie in ihren Bemerkungen zum historischen Kontext.

Bis in den 1960er Jahre reicht Robert Littells sehr ironisches Vexierspiel um einen der angeblichen Meisterspione des KGB: Philby. Porträt des Spions als junger Mann (Arche) heißt der raffinierte Roman, in dem Littell multiperspektivisch zweifeln lässt, ob einer der berühmtesten Maulwürfe der Politik- und Literaturgeschichte (siehe Le Carrés Smiley-Romane, Brian Freemantles Charlie-Muffin-Bücher und nicht zuletzt das Gesamtwerk von Robert Littell) nicht vielleicht nicht nur ein Doppel- sondern ein Tripel-Agent war. Aber dann, mit welcher Grundloyalität? Eines der stärksten Bücher in einem sowieso sehr starken (kriminal-) literarischen Herbst.

 

© Thomas Wörtche, 2012

 

« Leichenberg 09/2012       Index       Leichenberg 11/2012 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen