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Leichenberg 10/2008

 

Citizen Sidel

Fein, dass es nach neun Jahren jetzt doch schon Citizen Sidel von Jerome Charyn bei Rotbuch zu lesen gibt. Das zehnte Kapitel der Isaac-Sidel-Saga aus dem Jahr 1999. Über die verlegerische Misere Charyns im deutschen Sprachraum regen wir uns schon gar nicht mehr auf, das Thema ist zu deprimierend. Möglicherweise kristallisiert sich an Charyns Saga die ganze Problematik von Kriminalliteratur und ihres momentanen zeitgeistigen Erfolgs. Denn anscheinend ist es kein bisschen evident oder zumindest nur schwer zu vermitteln, warum ein Projekt, das von sehr irdischen, sehr trivialen und sehr universalen Mythen, von individueller Magie, von präziser Beobachtung einer sich permanent ändernden Stadtlandschaft (New York City als Weltmodell) und großgesellschaftlichen Wetterlagen erzählt, ohne den biederen Kriterien von konventioneller Story, Figurenzeichnung, Kohärenz oder anderen Parametern einer anderen literarischen Welt zu genügen und dennoch Kriminalliteratur in the state of art ist, warum also ein solches genial-irres Projekt so ungleich faszinierender ist als alle Blutschocker und "literarischen" Krimis zusammen...

Fragen Sie den Papagei

Die Charyn-Misere wird gespiegelt von dem ganzen Bohei um Donald Westlake resp. Donald E. Westlake resp. Tucker Coe resp. Samuel Holt resp. Edwin West resp. Curt Clark resp. John B. Allan resp. Morgan J. Cunningham resp. Timothy J Culver und last not least (die Philologen mögen mir vergessene Pseudonyme verzeihen) resp. Richard Stark. Unter diesem aka hat Westlake seit 1962 alleine 26 (!!!) Romane um den Profigangster Parker geschrieben, dessen neuester, Fragen Sie den Papagei, jetzt bei Zsolnay erschienen ist. Das ist natürlich sehr erfreulich, denn Parker, ein Urahn (aber beileibe nicht der Sippengründer) vieler Gangster-Figuren bis hin zu Garry Dishers Wyatt, ist eine erfreulich unsentimentale Veranstaltung: Er steht für einen Blick auf die Welt, wie realistischer und in diesem Realismus romantischer er nicht stilisiert sein könnte. Der coole Profi als role model für alle, die so uncool sind dass sie diese Coolness anbeten möchten. Das ist schon okay. Dass allerdings ein Verlag wie Zsolnay, dem es dringend an einem Mankell-Nachfolger gebricht, mit einem Retro-Konzept (denn Westlake erzählt sehr schön lakonisch, aber auch sehr schön traditionell und das ganze Design ist dementsprechend risikolos und tausendfach bekannt) aus den 1960s versucht, sich schwerpunktmäßig im Genre zu etablieren, das ist signifikant. Weil aber Stark und Parker damit wieder einmal Einzug halten in unsere Verlagslandschaft, ist alles schön und gut - die List der Unschuld, sozusagen.

Weisser Schatten

Relativ uninteressant sind solche Erwägungen im Falle von Deon Meyer. Formal ist sein neues Buch, Weisser Schatten (Rütten & Loening) eher unauffällig und moderat, allerdings hat die Geschichte über die schwierige Stabilisierung Südafrikas ihre eigene, dominante Wucht. In der neuen politischen Konstellation wollen ein paar alte Reptilien überleben und versuchen, die Vergangenheit ex post zu säubern. Die Apartheid hatte alle und alles versaut, sauber bleiben war ein Unding, aber saubermachen heute ist der reine Mord. Und Artenschutz, Wildparks und Naturreservate waren und sind eben nicht nur edle und gute Veranstaltungen, wie sie es eigentlich sein sollten. Vorsicht: Afrika wird Ihnen in diesem Roman nicht gefallen, wenn Sie weiße Massai und dicke Detektivmamas toll finden. Klasse Buch!

Ein emiment wichtiges Buch ist Misha Glennys McMafia. Die grenzenlose Welt des Organsierten Verbrechens (DVA), weil es beinahe verzweifelt versucht, mit den immer wiederkehrenden Mafia-Folklorismen aufzuräumen. Glenny, englischer Journalist und auch in politischen Fachkreisen hochgeschätzte Stimme zum Thema, geht davon aus, dass Organisiertes Verbrechen immer eine "rationale Reaktion" auf politische und ökonomische Gegebenheit war und ist, und dass es allmählich zu spät sein könnte, einen solchen ökonomischen Prozeß anzuhalten oder gar rückzuführen. Denn es geht beim Organisierten Verbrechen nur um eines: Ums Geldverdienen. Und wo tut es das nicht? Keine schöne, aber ein sehr sinnvolle Lektüre...

Der Klassiker des Monats ist eine fein gemachte Neuübersetzung (von Dagmar Ploetz) von Juan Rulfos Pedro Páramo (Hanser), einem schmalen Roman aus dem Jahr 1955, der für die gesamte lateinamerikanische (Kriminal-)Literatur und für deren spezifisch sozialkritisch-poetischen Ansatz von exorbitanter Wichtigkeit ist. Und natürlich ein Juwel von Text.

 

© Thomas Wörtche, 2008

 

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