legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 08/2009

 

Das Stalin-Epigramm

Der russische Lyriker Ossip Mandelstam gehört zu den großen Namen der Moderne. Zum Mythos wurde er, weil er ein bissig-kritisches Epigramm verfasst hat, in dem er Stalin in direkten Worten als "Bauernschlächter", Massenmörder und Tyrann angriff. Das war 1934 in der Sowjetunion eine lebensgefährliche Provokation, die Mandelstam prompt vier Jahre später in den Gulag brachte, wo er jämmerlich verreckte. Das Stalin-Epigramm (Arche) heisst denn auch der neue Roman von Robert Littell, der sich auch in seinen Polit-Thrillern immer wieder als großer Kenner der russischen Avantgarde zu Anfang des 20. Jahrhunderts erwiesen hat. Das ungleiche Duell zwischen Dichter und Tyrann, das Littell hier in einer sehr klugen Mischung aus Fakten und Fiktionen erzählt, lebt weniger von der Story selbst (die ist bekannt), sondern in der Zuspitzung und Inszenierung der Verhältnisse zwischen Macht und Geist. Insofern ist Littells Roman ein scharfer und weiser Kommentar über Macht und Politik - kein Thriller im formalen, aber ein Polit-Thriller im recht eigentlichen Sinn.

Im Grunde sind auch die Romane der Amerikanerin Reggie Nadelson Polit-Thriller, die als Cop-Romane bzw. als Psycho-Thriller daher kommen. Oder Cop-Romane, die als Polit-Thriller oder... Naja, auf jeden Fall sind sie New-York-Romane, denn die Psyche dieser Stadt nach 9/11 ist Nadelsons großes Thema. Sie erzählt mit den Augen des russisch-stämmigen Cops Artie Cohen, der sich wie ein Seismograph durch die verschiedenen Milieus bewegt. Alles ist in Bewegung, alles oszilliert, alles verschwimmt, bevor es klare Formen annehmen kann. So begegnet uns in Kalter Verrat (Piper) Cohens Neffe Billy wieder, den wir aus »Russische Verwandte« (2004/5) kennen, als er getötet hatte und deswegen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Jetzt ist er wieder da. Geheilt? Das möchte Artie Cohen gerne glauben, aber dann beginnt das Töten erneut... Was ist wahr? Was kann sein? Was darf sein und was auf keinen Fall? Nadelson wird immer unspektakulärer und deswegen immer komplexer und wichtiger. Grandios!

Das Stalin-Epigramm

Genauso grandios ein Roman aus Südafrika: Schlaf ein, mein Kind von Andrew Brown (btb). Der Originatitel "Coldsleep Lullaby" ist treffender, auch weil das Buch aus gutem Grund eine Reihe von Schlafliedern beinhaltet, die von kitschig-süß über rührend bis hin zur blanken Giftigkeit führen. So wie sich die beiden Storys des Romans in einer bösen Pointe treffen: Die eine spielt im 17. Jahrhundert, also während der holländischen Kolonialzeit. Die andere spielt im heutigen Stellenbosch, einer normalen Kleinstadt. Beide Geschichten vereinen Gewalt, Rassismus, Mord, der historische und der menschliche Faktor. Zwei Frauenschicksale - eine Sklavin damals, eine böse verletzte jungen Frau heute - und eine Ermittlerfigur, die radikal "dekonstruiert" ist, aber deswegen erst recht glaubwürdig funktioniert. Browns Roman ist brillant gemacht, alleine das Ophelia-Intro (also die Wasserleiche) ist schon sehr bemerkenswert. Und das war nur der Anfang...

Anfänglich leicht seltsam mutet Mord im Paradies der Nackten von Néopolar-Urgestein Jean-Bernard Pouy an (Verlag Edition AV). Eine Gruppe libertärer Menschen macht FKK-Urlaub und möchte nebenher in langen Diskursen die Welt retten. Es lebe die Anarchie von Proudhon bis Kropotkin! Und dann fällt eine Leiche an, die möglicherweise die Tochter der anarchistischen Groß-Ikone aus dem spanischen Bürgerkrieg, Buenaventura Durruti, sein könnte. Der Obernackte wird zum Ermittler. Pouy erzählt diese schon fast putzige Geschichte in naiver Stilisierung, die aber großen Witz und Charme hat. Der noir als Sommermärchen, mit viel nackter Haut, bizarren Figuren, teilweise schauderhaftem Essen und einer sehr anarchischen Leichtigkeit des Seins.

Das Stalin-Epigramm

Dass Frongreisch immer mit Essen zu tun hat, ist auch direkt ins Marketing-Konzept des Schotten Martin Walker eingegangen. Sein Debut Bruno, Chef de Police (Diogenes) ist ein bemerkenswerter Reißbrettroman, bei dem aus jeder Zeile das Kalkül leuchtet. Bruno ist ein Polizist ohne Probleme, die Provinz, das Périgord, steht für kulinarischen Genüsse, das Personal für knorzig-liebenswerte Landbewohner und der Konflikt - aus Schicksalsgründen böser Algerier wird ermordet, der Mord aber vertuscht, um der Front National kein Thema zu bieten - ist politisch korrekt bis zum Anschlag. Bizarr wird der an sich ultrakuschelnette Roman an den Stellen, an denen Franzosen Franzosen französische Geschichte erklären, als obs schottische Autoren wären, die ihrer Zielgruppe die Grundlagen der Handlung beibringen.

Das ist aber nur halb so seltsam wie Ein Morgen wie jeder andere von Christian Pernath (dtv). Auch ein Buch, das in der französischen Provinz spielt und einen heruntergekommenen Tierarzt als Hauptfigur hat. Drücken wir es höflich aus: Wenn Georges Simenon eine rabenschwarze Woche gehabt hätte, hätte er doch nicht einen so stilistisch verblasenen, von Anfang an durchsichtigen Simenon-Roman über das Walten und Treiben von homo sapiens schreiben können. Ach nee...

 

© Thomas Wörtche, 2009

 

« Leichenberg 07/2009       Index       Leichenberg 09/2009 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen