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Leichenberg 07/2013

 

Zügellos

Welch eine Wohltat inmitten all der pseudo-kriminalliterarischen Gefühligkeit, inmitten all der Wellness-Lektüren und lustischen Verblödungen, an denen sich der "Normalleser" angeblich ergötzt: Dominique Manottis Zügellos (Ariadne) ist politisch hellsichtig, literarisch radikal minimalistisch, intellektuell von kaltem Verstand und ausgestattet mit grimmig-lakonischem Humor. Kriminalliteratur wie sie sein soll. Der Roman spielt 1989, in den letzten Monaten vor dem Mauerfall, zu einer Zeit also, in der der deregulierte Neoliberalismus sich auf neue Jagd-und Beutegründe in der DDR und anderen östlichen Ländern einstellte. Dass sich dabei auch Versicherungskonzerne legal prekärer, um nicht zu sagen: krimineller Fremdfinanzierungen plus politischer Protektion und Korruption bedienen, ist nicht sehr erstaunlich. Aber wie Manotti mit kleinen eisigen Splittern solche Zusammenhänge erzählbar macht, das ist schon ganz große Klasse. Vergnügen on the rocks.

Manhattan

Zumindest interessant ist die abermalige Lektüre von Don Winslows Manhattan (Suhrkamp), einem Frühwerk, das 1996 entstanden, unter dem Titel »Manhattan Blues« 1997 bei Piper in der identischen Übersetzung von Hans-Joachim Maass erschienen war. Die Story vom angeblichen EX-CIA-Mann Walter Withers, der 1958/1959 auf das neue Glamour-Paar der amerikanischen Politik, John F. und Jacqueline Kennedy (die im Roman anders heißen, warum eigentlich?) notfalls robust aufpassen soll und in allerlei Polit-Intrigen rutscht, ist - gemessen am Winslow von heute - durchaus schon clever geplottet. Aber der Zeitgeist der späten 1950er Jahre, den Winslow beschwören möchte, erschöpft sich in ermüdenden Aufzählungen von Nachtclubs, in namedropping und einer Parade von Berühmtheiten (unter geändertem Namen oder auch nicht), die Leute, die sich kulturgeschichtlich in der Zeit auskennen, leicht als Abarbeiten von Referenzlisten identifizieren können - und die Leuten, die auf diesem Gebiet nicht firm sind, sowieso nichts sagen. "Die Wiederentdeckung des frühen Winslow" tönt der Klappentext. Naja...

Boca Do Inferno

Ein spannendes Puzzlestück ist Boca Do Inferno. Aleister Crowleys Verschwinden in Portugal von Fernando Pessoa (S. Fischer). Aber Achtung - Übersetzer und Herausgeber Steffen Dix hat aus unzähligen Briefen, Dokumenten, Plänen, Skizzen und Prosafragmenten des portugiesischen Heroen der literarischen Moderne eine Mystifikation rekonstruiert, an der sowohl der notorische englische Satanist, Okkultist und Obskurant Aleister Crowley als auch Pessoa vermutlich ihre Freude hatten. Beide hatten sich 1930 in Lissabon getroffen, sich sozial prächtig vertragen, auch wenn sie vermutlich intellektuell nicht auf einer Wellenlänge waren - und dann verschwand Crowley am 23. September spurlos. Im "Boca do Inferno", im "Höllenschlund", einem recht mysteriösen Ort am Atlantik. Mord? Selbstmord? Magie? Der kriminalliterarisch interessierte Pessoa, dessen eigener literarischer Detektiv Dr. Abílio Fernandes Quaresma ein naher Verwandter Borges'scher Detekivgestalten ist, baute nun um den Crowley Vorfall ein Irrgarten aus Indizien und Spekulationen auf. Bruchstückhaft und fragmentarisch, die wiederum von dem Philologen Steffen Dix sortiert, montiert und arrangiert wurden. Meta-Spielerei? Ja! Aber extrem vergnüglich und mit ein paar spannenden Implikationen für eine "Poetik des Kriminalromans.".

Der Mensch, der schießt

Berühmte erste Sätze: "Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz, der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen, auch der Mensch tötet den Menschen". So beginnt eine der Gerichtsreportagen von Paul Schlesinger, bekannter als Sling, die es unter dem Titel Der Mensch, der schießt jetzt endlich in angemessener Auswahl von Axel von Ernst bei Lilienfeld gibt. Neben Gabriele Tergit, Hugo Friedländer und Leo Rosenthal gehörte Sling zur Gründergeneration der deutschen Gerichtsreportage, die gleich Maßstäbe setzte - literarisch-ästhetisch, intellektuell, politisch und moralisch. Slings fein gebaute, oft ironische, nie denunzierende, scharfsichtig und - sinnige Texte über Skandalprozesse und kleinkriminelles Alltagsgeschehen sind bis heute gültige Optionen, wie man intelligent mit Gewalt und Verbrechen erzählend umgehen kann. Wichtiges Buch!

Mein Lieblings-Crime-Comic des Monats ist Die große Odaliske von Vivès/Ruppert & Mulot (Reprodukt) - die witzig und charmant erzählte und sehr sexy in luftiger Aquarellmanier gezeichnete Story von drei professionellen Einbrecherinnen, die gemäß der basalen Erkenntnis leben, dass man legal kein richtiges Geld verdienen kann. Stattdessen möchten sie sich das millionenschwere Gemälde "Die große Odaliske" von Jean-Auguste-Dominique Ingres schnappen, das im Louvre hängt. Have fun! Und Fortsetzung folgt!

 

© Thomas Wörtche, 2013

 

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