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Leichenberg 06/2016

 

Die Mauer

Südafrika: Ein junger schwarzer Mann hat eine Autopanne und sucht Hilfe. Ausgerechnet in einer Gated Community, in der sich der weiße Mittelstand eingemauert hat, mit Sicherheitsdienst, Kameraüberwachung, kurzem Draht zur Polizei und voller besorgter Bürger. Der junge Mann gehört hier nicht her, er erregt Misstrauen und Angst. Bald geistern Worte wie "Einbrecher" und "Vergewaltiger" durch die Gegend und er muss um sein Leben rennen, während sich um ihn herum kollektive Hysterie aufbaut. Und die ist gewalttätig. Die Mauer (rororo) heißt der Roman von Max Annas, der diese Geschichte erzählt. Die Mauer, die um die Siedlung gezogen ist, wird für den jungen Mann zur Falle. Sie definiert draußen und drinnen, wir und die, Inklusion und Exklusion in einer der gewalttätigsten Gesellschaften dieser Welt. Max Annas komprimiert Raum und Zeit (dieses Prinzip hatte auch schon seinen grandiosen Erstling »Die Farm« ausgezeichnet) - die erzählte Zeit beträgt gerade mal ein paar Stunden, und selbst wenn sogar im Sekundenrhythmus erzählt wird, braucht der Roman nur 220 Seiten. Komplex ist er dennoch, denn es gibt noch eine zweite Handlung. In einem der Häuser der Siedlung ist tatsächlich ein Einbrecherpärchen unterwegs und entdeckt dort eine Leiche. Eingesperrt in einen Schrank und am Ende in einer Tiefkühltruhe erleben sie die Panik und den Krawall um sie herum über weite Strecken nur akustisch. Eine weitere geschickte Reduktion und zudem eine Standardsituation der Boulevardkomödie. Terror und Komik gehen dabei ganz klassisch Hand in Hand. Es wäre aber zu bequem, die Handlung nur auf die rassistischen südafrikanischen Verhältnisse zu beziehen, die Annas, der lange dort gelebt und gearbeitet hat, bestens kennt. Die Mauer ist eine globale Metapher, von der "Festung Europa", den Grenzzäunen bis zu Trumps Mexiko-Mauer-Delir. Max Annas' Roman ist der in Action und Suspense umgesetzte Kommentar dazu. Brillant.

Zero One Dewey

Endlich ist, nach einem Verlagswechsel, der dritte und letzte Teil der Dewey-Decimal-Trilogie von Nathan Larson erschienen: Zero One Dewey (Polar Verlag). Wir erinnern uns: In »2/14« und »Boogie Man« versuchte der Ex-Soldat in einem von rätselhaften Geschehnissen am Valentinstag zerstörten und entvölkerten New York zu überleben und gleichzeitig herauszufinden, wer er ist oder wer er war. Dewey ist kybernetisch aufgerüstet, aber sein Gedächtnis ist manipuliert. Er arbeitet als Mann fürs Grobe im Dienst eines korrupten Senators und legt sich mit allen möglichen Gruppierungen an, die um die Macht im von Giftdämpfen und Müll verheerten Big Apple kämpfen. Es herrscht die nackte Gewalt, waffenstrotzendes Chaos. Hier, im dritten Teil, eskaliert die Situation noch mehr. Dewey soll ein Geschwisterpaar aus saudischem Adel unappetitlicher Fortpflanzungstechnologie zuführen, was ziemlich viele Leute verhindern möchten, und stößt endgültig an seine moralischen Grenzen. Larsons grimmige Dystopie zeichnet eine amerikanische Gesellschaft, der alle ihre politischen Sünden der letzten Jahrzehnte auf den Kopf gefallen sind und sie zermalmen. Düstere Halluzinationen und Visionen, wie sie auch Dewey heimsuchen, und die er mit einem ironisch gebrochenen hard-boiled-Erzählgestus inszeniert, zwischen Selbsttäuschung, Selbstbehauptung und furchtbaren Ahnungen oszillierend. Ein bis zum Ende konsequent durchgezogenes, radikales Projekt. Furchterregend gut.

Motel Terminal

Manchmal tauchen Bücher einfach so auf und erregen eine gewisse Aufmerksamkeit, was gut so ist und die üblichen Trampelpfade verlässt. So geschehen bei Motel Terminal von Andrea Fischer Schulthess (Salis Verlag). Ungewöhnliches Setting: Ein abgeranztes, ausrangiertes Stunden-Motel im Einzugsbereich von Zürich. Dort hält eine Mutter ihre nunmehr 13jährige Tochter seit deren Geburt in einem Zimmer unter Verschluss. Nichts soll an das Kind heran kommen, keine Keime, keine Bakterien, kein Leben, vor allem keine fremden Menschen. Eine benevolent-terroristische Kampusch-Geschichte also, mit Norman-Bates-Appeal, im günstigsten Fall. Aber ach, leider zerschießt die Autorin alle Potentiale. Einmal mit ihrer gleichförmigen, für alle Figuren passenden (oder nicht passenden ) Sprache, zum anderen mit der seltsamen Mutter-Kind-Beziehung, die nicht wirklich wahnsinnig, sondern nur ultragefühlig rüberkommt und mit dem Ende, das so ganz furchtbar sein muss, dass es letztendlich kitsch noir produziert. Schade, eigentlich.

Füchsin

Dass Noir eine sehr artifizielle Veranstaltung ist, weiß Ken Bruen bestens. Deswegen spickt er seine Reihe um DS Brant mit Anspielungen, Zitaten und Bezüge auf die gesamte Noir Kultur der letzten 70 Jahre. Das macht vor allem den Noir-Fans einen Höllenspaß, weil da deutlich ein Freak, ein aficionado am Werk ist und das Publikum an seiner Leidenschaft teilnehmen lässt. Füchsin (Polar Verlag) ist der fünfte Roman dieser Reihe (N° 7, »Kaliber« liegt auch schon auf Deutsch vor), der sich um eine veritabel durchgeknallte Killerin namens Angie dreht, die gerne Leute mal so umbringt, weil sie nerven, zum Beispiel. Das Polizeiensemble, das hinter ihr her ist, mit Detective Sergeant Brant an der Spitze, ist nicht minder irre. Direkte, nach London versetzte Verwandte der Monster-Cops aus dem karnevalesken Universum von Joseph Wambaugh. "Wenn das die Guten sind, dann gnade uns Gott", gruselt sich einmal ein Arzt, der mit der Truppe konfrontiert wird. Vergnüglich und sehr komisch verätzt Bruen kurz und schmerzvoll alle niedlichen Legenden von netten, aufrechten, tapferen Polizisten, obwohl seine Copper irrerweise sich selbst so sehen. Die Öffentliche Sicherheit ruht in den Händen von gewaltgeilen, saufenden, korrupten und aufs Legalitätsprinzip scheißenden Psychopathen. Das ist doch mal eine Ansage.

Gleicher Gegenstandbereich, völlig verschiedener Diskurstyp: In ihrem sowohl unterhaltsamen als auch extrem scharfsinnigen Buch Böses Denken (Rowohlt) beschäftigt sich die Philosophin Bettina Stangneth ausgehend von Kants Diktum, der Mensch sei "radikal böse" mit der Frage, "warum verfehlen wir unseren eigenen moralischen Anspruch?" "Weil der Mensch es nun einmal kann", antwortet sie sich selbst provisorisch und seziert dann so ziemlich alle denkbaren Exkulpationsstrategien, alle Lebenslügen, Unschuldsbeteuerungen und moralischen Indolenzen, die uns dennoch nicht vom Haken des wissensgestützten Denkens und dessen Verantwortlichkeit lassen, wenn die Welt nicht völlig vor die Hunde gehen soll. Ein wichtiges Buch, das man sorgfältig und immer wieder studieren muss, weil so viele sinnvolle Ansätze und Ideen darin stecken. Und weil sie die Fluchttüren zu den üblichen Sprachformeln und Denkmustern fest verrammelt.

 

© Thomas Wörtche, 2016

 

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