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Leichenberg 04/2016

 

Die Gehörlosen

Rodrigo Rey Rosas Roman Die Gehörlosen (Septime Verlag) ist ein "Mystery" im strengsten Wortsinn. Mysteriös ist das Verschwinden einer reichen Erbin aus Guatemalas Oberschicht. Alles scheint auf eine Entführung hinzudeuten, Lösegeldforderungen treffen ein, aber genau plausibel ist es, dass sie nur aus ihrem alten Leben weggelaufen ist, um sich neu zu erfinden. Allerdings, so erfahren wir, wurde sie unter Drogen gesetzt. Mysteriös ist eine Klinik mitten im Maya-Land, in der, angeblich zu Nutz und Frommen der indigenen Bevölkerung, seltsame und möglicherweise gruslige Transplantationsexperimente durchgeführt werden. Immerhin taucht ein verschwundenes Maya-Kind, das einst taub war, wieder auf und kann hören. Mysteriös bleibt dennoch, warum diese Klinik, die doch benevolent sein soll, als Top-Investition der gualtematekischen Elite gilt, und von einem insolventen Anwalt finanziert wird und deutlich unethische neurophysiologische Techniken praktiziert. Mysteriös sind auch die Ratschlüsse und Verfahren eines "Maya-Gerichtes" (das gibt es in Guatemala tatsächlich), dessen Rechtsprechung sich auch nicht-indigene Menschen beugen müssen, um Gewaltexzessen und sozialen Unruhen vorzubeugen. Guatemala ist eines der gewalttätigsten Länder dieser Welt, wer es sich leisten kann, beschäftigt Leibwächter, deren aber Loyalität nicht unbedingt sicher ist. So entsteht eine Atmosphäre der andauernden Bedrohung, der permanenten Gewalt, die Rey Rosa meisterhaft gegen die atemberaubend schöne Natur kontrapunktisch setzt. Mysteriös auch die meisten Hauptfiguren, selbst der als junger Naiver eingeführte Leibwächter Cayetano kann ohne mit der Wimper zu zucken Leute umbringen, obwohl er zumindest seiner Klientin Clara - die abgängige Erbin - eine Art Nibelungentreue entgegenbringt. Das Bemerkenswerte an diesem Roman ist, dass die Erzählhaltung nicht irgendwie kunstvoll verzwirbelt ist, sondern straight mit glasklarer Prosa die verschiedenen Mysterien inszeniert, als sei alles völlig normal, völlig transparent. Dadurch baut sich eine intensive Spannung auf, die einen durch die Seiten peitscht. Dem Zwang zur buchhalterisch "sauberen" Aufklärung aller Geheimnisse verweigert sich der Roman jedoch. Und entgeht so dem ordnungspolitischen Diktat, dem das konventionelle Mystery ansonsten lemminghaft und letztendlich ideologisch folgt. Genau dieses Prinzip der transluziden Subversion macht diesen zutiefst anarchischen Roman so richtig stark.

Mississippi Jam

Ganz anders gelagert sind die Qualitäten von James Lee Burke. Er ist ein wuchtiger Epiker, ein rhetorisch fulminanter Donnerpastor, der auch Ausflüge in alttestamentarische Transzendenz notfalls nicht scheut, eine Tendenz, die sich in seinem Spätwerk immer deutlicher zeigt, aber auch in seiner Serie um Dave Robicheaux schon deutlich aufscheint. Mississippi Jam (Pendragon) ist ein Roman aus dieser Serie, entstanden 1994, und damals von Burkes deutschem Verlag aus welchen Gründen auch immer ausgelassen. Vielleicht scheute man das Thema, denn das Buch dreht sich um amerikanische (und am Rande auch deutsche) Neonazis, die hinter einem vor der Küste Louisianas versenkten deutschen U-Boot aus dem Zweiten Weltkrieg her sind. Jürgen Bürger hat den Roman flamboyant übersetzt, in dem sich fiese Psychopathen, la mafia, korrupte Cops, irre Prediger und andere Prachtexemplare aus dem Bestiarium von New Orleans und Umgebung tummeln. Der leicht wirre, wie bei Burke meistens nicht sehr stringente Plot wird durch die großartigen Dialoge, die eingeschobenen Vignetten aus dem gewaltsatten Alltag von Big Easy, und den schrägen Figuren aus Robicheauxs Universum (vor allem sein Kumpel Clete Purcel hat ein paar gigantische irre Auftritte) mehr als kompensiert. Und nicht sattlesen kann man sich an den Bayou- und Meereslandschaften, die Burke wie kein anderer erzählt. Zarte Poesie und radikale Gewalt.

Seitenhieb

Obwohl, an der stoisch-lakonischen Schilderung von psychopathischem Irrsinn inmitten einer sinnfreien Welt ist Charles Willeford kaum zu toppen. Deswegen freuen wir uns über den dritten Band seines Hoke-Moseley-Quartetts, Seitenhieb, das gerade im Alexander Verlag neu aufgelegt wurde. Hoke ist katatonisch, mag nicht mehr für's Miami Police Department arbeiten, will sein Leben vereinfachen und nur noch ein schlichter Hausmeister in Diensten seines reichen Vaters sein. Gleichzeitig holt ein psychopathischer Berufsverbrecher, so seine fröhliche und präzise Selbsteinschätzung, namens Troy Louden zum großen Schlag aus. Zusammen mit einem nicht-gegenständlichen Maler aus Barbados, einer entstellten Prostituierten und einem grotesk dummen Rentner, will er einen Supermarkt berauben. Viele kleine Katastrophen (wie die Geschichte des Rentners, der wegen angeblicher sexueller Belästigung einer Minderjährigen total aus der Spur gerät) summieren sich zur großen Katastrophe, die Willeford einmal mehr in ein Exerzitium über die Absurdität des menschlichen Daseins verwandelt. Und Hoke stiefelt indolent und sensibel, ignorant und schlau, brutal und liebenswert durch eine Orgie des schlechten Geschmacks und der zwischenmenschlichen Desaster hindurch, irgendwo zwischen äthiopischen Viehfliegen und Paul Valéry.

Fünf schräge Vögel

Und noch ein lieber, alter Bekannter ist wieder da: Donald E. Westlake. Der Atrium Verlag hat den ersten Roman um den Dieb Dortmunder (benannt nach der Dortmunder Actien-Brauerei) als Fünf schräge Vögel (Hot Rock, original 1970) neu und vollständig übersetzt, nachdem es schon vor einiger Zeit eine schöne Comic Fassung von Lax bei Schreiber & Leser gab. Dortmunder und seine Kumpane sollen für einen fiktiven afrikanischen Staat einen wertvollen Diamanten klauen, was sie auch beinahe schaffen, nur verschwindet der Stein jedes Mal wieder, so dass sie - Sisyphos lässt grüßen - immer wieder neu ranmüssen und immer absurderes Equipment brauchen, von einem Hubschrauber bis zu einem ganzen Eisenbahn-Zug. Das ist schön komisch und gleichzeitig auch sehr gemütlich, eher betulich. Kuschelige Lektüre für Retro-Fans, an der der Zahn der Zeit doch schon ein wenig genagt hat. Liab halt.

Und noch was für Synästheten: Der holländische Comic-Künstler Erik Kriek hat im Geiste Nick Caves ein Album mit zeichnerisch meisterhaft umgesetzten Murder Ballads unter dem, Titel In the Pines (avant-verlag) vorgelegt, die man auf der beigelegten CD anhören kann. Das ist besonders sinnvoll, weil Kriek sehr frei und originell mit dem Stoff aus der Schauer-Abteilung des Great American Songbooks umgeht, die traditionellerweise schon immer auf der konstitutiven Rolle von Gewalt für die US-amerikanischen Gesellschaft insistierte. Folklore muss keinesfalls harmlos sein.

 

© Thomas Wörtche, 2016

 

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