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Leichenberg 04/2011

 

Die Plage

Ein durchgeknalltes Prion verpasst der Menschheit eine Plage, eine Art Seuche: Schlaflosigkeit, die früher oder später, auf jeden Fall aber definitiv zu einem unschönen Tod führt. Nur eine Synthi-Droge, "Dreamer", kann Linderung, wenn auch nicht Heilung bringen. Die urbanen und sozialen Ordnungen einer neoliberalen Welt, die sowieso schon prekär sind, kollabieren vollständig. Der Hobbes'sche Leviathan - jeder gegen jeden - ist wieder los. So sieht das Szenario aus, das Charlie Hustons neuer Roman Die Plage (Heyne) entwirft. Los Angeles ist praktisch Bürgerkriegsgebiet, verschiedene Polizeieinheiten, Militär, Paramilitärs, Gangs, Security-Konzerne, Selbstmordattentäter und waffenstarrende Sekten toben durch die Gegend. Mitten drin Parker Haas, ein Undercovercop, der derart deep cover ist, dass seine Mission - die Schwarzmarktquellen für "Dreamer" zu finden, gar nicht mehr irgendwo offiziell darstellbar ist. Huston lässt sich, anders als in seinen dito großartigen Joe-Pitt-Romanen, hier Zeit. Einlässlich bastelt er die Welt der Schlaflosigkeit (was für eine schöne Metapher für unsere Zeiten!) mit ihren Bizarrien, mit ihren Szenarien des schrillen Zerfalls, mit ihren künstlichen Gegenwelten, den Internetgames, denen die Schlaflosen besonders verfallen sind. Action gibt es nur punktuell, dafür aber jede Menge grandioser Ideen und kluger Beobachtungen über den Zustand der Welt. Huston klinkt sich bestens in die Reihe urbaner Dystopien von "Blade Runner" bis zu den soziologischen Alptraumszenarien von Mike Davis ein. Sehr eindrucksvoll.

Belleville - Barcelona

Grandios auch Patrick Pécherots zweiter Teil seiner Nestor-Burma-Trilogie. Burma ist ja der Held der Arrondissement-Romane von Léo Malet, dem Pécherot eine Biographie als Anarchist, Lyriker und Privatdetektiv andichtet, die mitunter doch sehr dem Leben Malets ähnelt. Dennoch handelt es sich dabei nicht nur um eine beliebig postmoderne Spielerei. Belleville - Barcelona (Nautilus) ist ein Kriminalroman, der den drei Grundpfeilern des französischen polars entspricht: Gewalt, Verbrechen, Argot. Der Argot ist in der deutschen Fassung natürlich gemildert, obwohl der Sound des Originals deutlich zu hören ist. Und die Story über Frankreich als logistische Basis für den Spanischen Bürgerkrieg, wo zum Krieg Francos gegen die Republik der interne Krieg zwischen Stalinisten und Anarchisten resp. "Trotzkisten" (grob gesagt) tobt, ist absolut plausibel. Der Surrealist André Breton mischt als Waffenschieber mit, Jean Gabin stiftet eine Espressomaschine und aus den Fenstern dringen Pablo Casals Cello-Töne der Bach-Suiten. Mitten drin Nestor Burma, der noch "Pipette" (Pfeifchen) heißt, den man arg an der Nase herumgeführt hat und der am Ende darüber grübelt, warum an sich gute und idealistische Menschen dem totalitären Wahnsinn der Zeit verfallen.

Dem Wahnsinn des Kalten Krieges entkommen, wähnt sich auch Benjamin Lorant, promovierter Kunsthistoriker und Feingeist, der im noblen Genf einen beschaulichen Lebensabend zu genießen gedenkt. Nur heißt Lorant nicht so, sondern Johann Blume. Er war Agent der DDR, hatte in Genf früher mal mit dem Hotel Beau Rivage und einer gewissen historischen Badewanne zu tun und soll jetzt plötzlich reaktiviert werden, um den Teilchenbeschleuniger CERN, der unweit von Genf steht, zu sabotieren. Aber wer weiß so genau über Lorants Fähigkeiten Bescheid? Um das herauszukriegen, muss der Ex-Spion erst einmal herausfinden, wer er wirklich ist - was ist Legende, was ist welche Persönlichkeit? Beinahe ein Parallelstück zu Robert Littells »Die kalte Legende« ist Peter Zeindlers neuer Roman Urknall (Reinhardt Verlag), der auch eine Art Resümee aller Spionageromane des Schweizer Schriftstellers seit den mittleren 1980s ist. Zeindler erzählt auch hier präzise und genau, zurückgenommen und spröde, spektakulär unspektakulär und vor allem mit großem Understatement.

Neun Drachen

Ähnlich lobende Worte hätte ich auch gerne für den Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly gefunden: Neun Drachen (Knaur), denn Bosch gehört zum Grundbestand wichtiger Cop-Figuren der letzten Dekaden. Warum das so ist, erschließt sich leider aus diesem Roman nicht. Bosch muss nach Hongkong um seine von Triaden entführte Tochter zu befreien, weil er sich in L.A. mit den falschen Leuten angelegt hatte. So scheint es. Folgt eine unendlich uninspirierte von didaktischen Einschüben (wie funktioniert dies und das und die Frühstücksordnung im LAPD) und kitschigstem Vater-Tochter-Beziehungsschmus unerträglich verlangsamte und aufgepumpte Mär von Harry als Rammbock. Keine Brechung, keine Überraschung, kein Rhythmus, keine Eleganz. Aber naja, auch sehr gute Autoren haben das Recht, mal danebenzulangen.

Keinesfalls daneben aber liegt man mit der wohlfeilen Anschaffung des von Steven Jay Schneider herausgegebenen Kompendiums 101 Gangsterfilme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist (Edition Olms). Kurze, übersichtliche und vor allem sehr kluge und kompetente Artikel, die nicht rumlabern, sondern klare Positionen haben, brauchbare, knappe Filmographien und sinnvolle Bildauswahl lassen höchsten eher sinnlose Debatten zu, ob zu wenige Melville-Filme vorkommen und zu viele von Martin Scorsese oder zu viele aus Japan und Hongkong und zu wenige aus Deutschland. Aber 101 sind nun mal nicht 1010...

 

© Thomas Wörtche, 2011

 

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