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Leichenberg 03/2019

 

Das Ende der Lügen

Ein eigenes Universum hat Sara Gran in bisher zwei Romanen für ihre Figur Claire DeWitt, "die beste Detektivin der Welt" gebaut - so auch hier, im dritten Buch um die gewaltaffine, sexuell autonome und drogenimprägnierte Ermittlerin: Das Ende der Lügen (Heyne, dt. von Eva Bonné). Claire DeWitts Welt wird von Rätseln bestimmt und von deren Lösung, wobei es nur einen einzigen Parameter gibt: Die Wahrheit, die man niemals finden wird. Aber genau dieser Wahrheit ist alles detektivische Streben und Handeln verpflichtet, nichts anderem. Das ist natürlich eine extreme epistemologische Stilisierung und gleichzeitig die radikale Ablehnung aller biederen und spießigen Postulate nach einem abbildenden Realismus. Ihre Welt wird dominiert von konkurrierenden Detektivinnen und Detektiven, die Jean Riesling heißen oder Constance Darling, ihre Strukturelement sind die Fälle, die zu lösen sind: Der "Fall der Welken Rosen", die "Spur der Uralten Sünde", die "HappyBurger Morde" oder der "Fall des Smaragdgrünen Pfaus".
      Auch die sinnstiftenden Großnarrative dieser DeWitt-Welt sind eher absurde Travestien sinnstiftender Großnarrative. Da ist einmal "Détection", die arkane Schrift von Jacques Silette von 1959, ein 123 Seiten kurzes Buch "über alles", in dem der Vordenker und gescheiterte Meisterphilosoph aller Detektion, die Welt im Namen der Wahrheit derart enträtselt, dass sie am Ende total verrätselt bleibt. Das Detektiv-Genie Silette konnte alle seine Fälle lösen, bis auf den, der ihn persönlich betroffen hatte - das spurlose Verschwinden seiner Tochter Belle.
      Das zweite Großnarrative ist das in winziger Auflage erschienene und inzwischen fast völlig verschwundene "Cynthia Silverton Mystery Digest", eine Mischung aus Comic, True Crime und Cynthia-Silverston-Kurzgeschichten für Teenager-Detektive. Als Fans dieser Heftchen wurden nämlich die junge Claire DeWitt und ihre Freundinnen Kelly und Tracey schon früh in den 1980er in Brooklyn Detektivinnen, bis Tracey eines Tages spurlos verschwunden war. Und tatsächlich wird erst der "Fall des unendlichen Asphalts" ("The Infinite Blacktop" ist der Originaltitel des Buchs) Sara Grans kompositorische Meisterleistung sichtbar machen, mit der sie in wunderbarer literarischer Logik Silette, Cynthia Silverston und Claire DeWitt "sinnhaft" zusammenführt. Das heißt aber auch, dass "Sinn" bei Sara Gran eine literarisch-ästhetische Qualität ist und keine irgendwie auf irgendeine außerliterarische Realität gerichtete Konzeption: Dass im Jahr 2011, der Jetztzeit des Romans, jemand versucht, Claire DeWitt umzubringen, hat letztendlich mit den Entwicklungen seit den 1980er Jahren zu tun und mit dem Fall eines seltsamen Malers, um den sich DeWitt im Jahr 1999 kümmert. Zeit ist ein fließendes, löchriges Kontinuum - auch da liegt der Schlüssel zur Wahrheit, die dunkel bleibt, in einer Art harscher "Alice-in-Wonderland"-Passage, die ein Cynthia-Silverstone-Mystery ist. Nicht, dass man sich darüber wundern würde, in einem Universum, in dem sich Claire DeWItt völlig plausiblerweise mit einer weißen Maus unterhält, die mit dem Werk Jacques Silettes vertraut scheint, denn Sara Gran kündigt methodisch immer wieder die Hierarchien von Realitätsebenen auf, Visionen, Halluzinationen, drogen- und alkoholinduzierte Rauschzustände haben den gleichen Stellenwert wie robuste Gewaltausbrüche oder kühle Analysen.
      Silette würde sagen, alles passiert, "um zu beweisen, dass es keine Lösung gibt". Das ist ein Paradox des Buches, denn natürlich klärt DeWitt alle ihre Fälle auf - aber Paradoxa sind nun einmal die Quintessenz von Sara Grans DeWitt-Romanen. Das sagt natürlich auch etwas über den Status, den das Genre für Sara Gran hat, und warum sie das Nachdenken über Sinn und Zweck von Kriminalliteratur in unendliche Schleifen treibt - delirant, halluzinativ, robust, spannend, mysteriös, unterhaltsam und virtuos. Gran befreit den Kriminalroman von der Bürde, Transmissionsriemen für Thesen, Ideologeme, politische Standpunkte und andere Gewissheiten über den Zustand der Welt sein zu müssen. Ihre radikale Literarisierung des Kriminalromans stellt ihn in Frage, in dem sie das Schema "Fall und Aufklärung" in seiner ganzen artifiziellen Überhöhung als den Punkt sichtbar werden lässt, an dem neuralgischerweise die verschiedenen ordnungspolitischen Dogmen, egal welcher Couleur, andocken können. Und das Ganze natürlich by doing. "Kritik der Poesie und Poesie in einem", könnte man Friedrich Schlegel variierend sagen. Insofern ist Sara Gran vielleicht die letzte Romantikerin des Genres, auf jeden Fall aber die fröhliche Anarchistin, die dem Kriminalroman Raum zum Atmen gibt.

Blues für sanfte Halunken und alte Huren

Eine eher nostalgische, aber sehr vergnügliche Veranstaltung ist Massimo Carlottos Blues für sanfte Halunken und alte Huren (Folio, dt. von Ingrid Ickler). Der Alligator Marco Buratti und seine Buddies, der verfressene Max und der "alte Gauner" Rossini haben mal wieder mit ihrer Nemesis Giorgio Pellegrini zu tun. Die drei alten Gangster, die eher Hobsbawm'sche Banditen sind - also so eine Art sozialrevolutionäre Drei Musketiere mit hoher krimineller Energie -, haben die gesamte italienische Staatsmacht in Gestalt der völlig skrupellosen Eisprinzessin Dottoressa Marino an der Hacke, mit der sich Pellegrini verbündet hat - und wollen nebenbei, weil der Alligator sich unsterblich verliebt hat, die nette Hure Edith aus den Klauen ihrer bösartigen Zuhälterin retten. Das ergibt einen hohen Bodycount, jede Menge Action und fieses Denken, während die Handlung fröhlich zwischen Padua, Wien und München hinundher springt. Und der immer ist der Blues dabei, der ideale Soundtrack für melancholische Killer, die wissen, dass man den Dreck dieser Welt niemals wegbekommen wird, sich aber zumindest ein bisschen besser fühlt, wenn man wenigstens ein paar Scheusale aus dem Verkehr gezogen hat. Wobei das Oberscheusal immer für einen Cliffhanger gut ist..., was vermutlich ein ziemlich realitätstüchtiger Zeitkommentar ist. Gutes Essen, gutes Trinken, guter Sex, gute Musik und ein paar gute Kämpfe, das ist völlig okay, auch boys wanna have fun, und ja, man könnte das als ideologiekritische Spaßbremse auch ganz anders sehen wollen.

Der Teufel will mehr

Simpel wie ein Strich und genauso vorhersehbar sind die Crissa-Stone-Romane von Wallace Stroby. Der vierte und vorerst letzte Teil der Saga, Der Teufel will mehr (Pendragon, dt. von Alf Mayer), weicht keinen Millimeter von diesem Generierungsprinzip ab: Crissa, die Profigangsterin mit ethischem Rückgrat, bekommt ein schickes Angebot (es geht um illegal aus dem Irak geschmuggelte, antike Kunst), einer ihrer Kumpane spielt falsch, es wird blutig, und am Ende... naja, man muss ja noch nicht mal spoilern, everybody knows (und sei's aus den Parallelbüchern von Donald Westlake oder Garry Disher). Die große Kunst von Wallace Stroby liegt in seinem Minimalismus, selbst das schlichteste Gemüt kann der Handlung einfach folgen, irgendwelche komplexen Implikationen sind nicht zu befürchten, "meta" ist ein Fremdwort. Aber das Konzept ist absolut überzeugend, weil Stroby seine Ästhetik und seine Figuren ernstnimmt, so artifiziell die natürlich sind. In dem er darauf verzichtet, mit ihnen herumzuspielen, und weil er auf alle möglichen brechenden Verfahren verzichtet, entsteht dadurch Literatur pur, die, bis auf ein paar Grundannahmen über das Wesen von homo sapiens, nichts transponiert, keine Thesen, keine Überzeugungen, keine Ideologien. Grandiose U-Literatur, spannend, rasant, fettfrei.

Der Fall Malaussène: Sie haben mich belogen

Nach fast zwanzig Jahren gibt es einen neuen Roman von Daniel Pennac aus dem Malaussène-Universum: Der Fall Malaussène: Sie haben mich belogen (KiWi, dt. von Eveline Passet)- das ist zunächst mal sehr zu begrüßen. Die Meta-Kriminalromane um den unwahrscheinlichen Pariser Familienclan der Malaussène waren in den 1980er und 1990ern Paradebeispiele für "postmoderne" Kriminalliteratur: Autoreferentiell, intertextuell, autoreflexiv, totalironisch. Es waren die großen Zeiten von Jerome Charyn, Andreu Martín, Jerry Oster, Helen Zahavi, Paco Ignacio Taibo II, Derek Raymond und anderen, die die Standardversionen von Kriminalliteratur zerlegten. Die überkommenen Erzählkonventionen lagen in Trümmern, das Zertrümmern selbst wurde im Lauf der Zeit zum fahlen Algorithmus wie jeder andere.
      An diesen dekonstruktivistischen Prinzipien hält Pennac auch heute noch fest: Deswegen ist die Geschichte der Entführung eines Kapitalisten, die zunächst als "Kunstinstallation" gedacht ist und dann aus dem Ruder läuft, konzeptuell sehr schön gedacht, aber unter dem ganzen Trommelfeuer von erzähltechnischen Kniffen, Tricks und Täuschungen, unter den Lawinen von Anspielungen, Zitaten, Abschweifungen, Perspektivwechseln und Brüchen fast unsichtbar oder besser: verschüttet. Natürlich ist das alles sehr gemütlich und vergnüglich, eine literarische Wellness-Oase für Aficionados: Exkursionen zum Erzählen an und für sich (Italo Calvino revisited), satirische Zeitkommentare zur politischen Lage in Frankreich, mehr oder weniger subtile Seitenhiebe auf den Kulturbetrieb - nichts, über das man böse sein könnte. Aber auch nichts, was beißt. Der Text kann sich von seiner theoretischen Grundierung nicht befreien, seine Stellschrauben bleiben allzu sichtbar. Dass eine einst so progressive Ästhetik so erschreckend museal werden kann, ist keine schöne Erkenntnis. Stagnation, Petrifizierung, Beliebigkeit.

Blaue Blumen zu Allerseelen

Santo Piazzese war, neben Jean-Claude Izzo und Manuel Vázquez Montalbán, sicher einer der profiliertesten Autoren des sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren allmählich formierenden noir méditerranée. Seine Romane über Palermo (am bekanntesten der Klassiker: "Die Verbrechen in der Via Medina-Sedonia") integrierten präzise Regionalität in die großen Zeitströmungen - besonders was den Zusammenhang von Organisierter Kriminalität, Politik und Alltag (auch in allen kulinarischen Details) anging. Jetzt hat die winzige Edition Converso einen bislang unübersetzten Roman, Blaue Blumen zu Allerseelen (Original von 2002, dt. von Monika Lustig), endlich auf unseren Markt gebracht. Ein mit allen Wassern der Moderne gewaschener und gerade deswegen erstaunlich "orthodox" anmutender Text, der anhand eines Mafia-Mordes, der aussieht wie ein Beziehungstat, aber genau deswegen ein Mafia-Mord ist, ein unglaublich detailliertes und nuanciertes Porträt von Palermo als Stadt im Wandel liefert - irgendwo zwischen Tradition (Katholizismus) und Moderne, zwischen Gewalt und Hoffnung, Pracht und Rott. Und immer voller wollüstiger Sinnlichkeit. Selten bekommt man den Unterschied zu den ganzen elenden neuen "Tourismus-Grimmis" so deutlich um die Ohren geschlagen. Grandios.

Kongo Blues

Kongo Blues von Jonathan Robijn (Edition Nautilus, dt. von Jan-Frederik Bandel) ist ein Debut-Roman aus Belgien, ein stilles, kleines Meisterwerk. Brüssel, Neujahrsnacht 1988. Morgan, ein "älterer afrikanischer Herr", von Beruf Jazz-Pianist, findet eine junge Frau auf der Straße und nimmt sie bei sich auf. Sie krempelt sein von resignierter Melancholie bestimmtes Leben um, bis sie eines Tages einfach verschwindet. Die Suche nach ihr verwandelt sich zusehends in die Suche nach der eigenen Persönlichkeit von Morgan und führt direkt in die Horrorgeschichte des belgischen Kolonialismus. Es mag ein bisschen forciert sein - aber die toxische Stille, die beinahe schon bleierne Melancholie des schmalen Romans erinnert an ein Hauptwerk der belgischen Literatur: "Bruges-la-Morte" von Georg Rodenbach, wobei natürlich der brutale Kolonialismus, der der Geschichte zu Grunde liegt, die subtilen symbolistischen Verschlüsselungen Rodenbachs nicht mehr braucht. Am Ende bleiben sowieso mehr Fragen und mehr Ratlosigkeit, als das Aufklärungsgebot des Standardkrimis erlauben würde. Aber "Kongo Blues" ist eben kein Standardkrimi und deswegen ein sehr origineller Kriminalroman.

Grosz. Berlin - New York

Das Bilderbuch des Monats - Lars Fiske Grosz. Berlin - New York (avant-verlag), eine Art Biopic ohne Worte des norwegischen Comickünstlers. George Grosz gehört zu den großen Ikonographen des 20. Jahrhunderts, dessen Bilder von Dekadenz, Laster, makrostruktureller Gewalt und Verbrechen immer noch für uns prägend sind. Fiskes Comic zeichnet in Grosz'scher Manier seine Lebensstationen nach: Vom Berlin der 1910er Jahre, über die "Revolution" 1918, Dada ("Dada ist politisch"), seine Theaterarbeit mit Erwin Piscator, die Weimarer Republik der Kriegsgewinnler, den nouveaux riches, dem "Labor der Moderne" mit seinen neuen Konzepten von Gender und Sexualität, die Gewalt der aufkommenden Nazis, die politische Arbeit mit den Heartfields für den Malik-Verlag, und schließlich der Traum von der Freiheit, von Amerika mitsamt seiner populären Kulturen, vor allem aber dem Kino. Weil sich Fiske eng an die Ästhetik Grosz' hält (auch wenn er sie abstrahiert), erkennt man zwar die Bilder wieder, aber die sind hier zu einer Art biographischen Konsistenz verzichtet. Fiske erzählt das Leben von George Grosz in Bildern von Georg Grosz, die nicht unbedingt biographisch gemeint waren, sondern "realistisch", also abbildend, "unromantisch, nüchtern und wenig traumhaft" (G. Grosz). Das ist bei der Opulenz von Grosz' Bildern zwar alles andere als richtig, aber hat dennoch eine höhere Wahrheit - in der Verzerrung kommt der nüchterne Blick zur ganz und gar unromantisch Zeitbetrachtung zu seiner besten Entfaltung. In dem Fiske diese Ästhetik der Brechung in seinem Werk über Grosz und über die Zeit anwendet, kann er ein überzeugendes Narrativ über das Berlin dieser Zeit schaffen, das gegen die naive und biedere Pappmaché-Kulissenschieberei eines Volker Kutscher (und wie sie alle heißen) eine sinnvolle Alternative bietet und zur Betrachtung von Grosz selbst aufruft, plus aller anderen Original-Narrative der Zeit von Döblin, Benn, Tergit, Isherwood, Brecht & Co. Das wirkt dem kulturellen Gedächtnisverlust entgegen, durch den ja erst die ganzen Talmi-Reproduktionen von heute möglich wurden.

 

© Thomas Wörtche, 2019

 

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