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Leichenberg 01/2017

 

Der unischtbare Killer

In Newcastle upon Tyne wird eine Leiche aus dem Fluss gezogen. Ermordet wurde der Mann mit einem nicht identifizieren Werkzeug, das den Körper regelrecht von innen zerfetzt hat. Detective Sidney Hurst und seine Crew nehmen die Ermittlungen auf, aber bald mischt sich die ganz große Politik ein. So beginnt ganz klassisch, ganz konventionell Der unsichtbare Killer von Peter F. Hamilton (Bastei-Lübbe), ein 1133 Seiten (!) langes Epos, das kein vernünftig-pragmatischer Rezensent zu lesen sich eigentlich leisten dürfte. Und schon gar nicht einer von Kriminalliteratur. Denn »Der unsichtbare Killer« ist deutlich Science Fiction. Wir befinden uns im Jahr 2143, die Menschheit kann sich "transräumlich" durch sogenannte "Gateways" auf ferne Planeten bewegen, die ihrerseits wertvolle Rohstoffe liefern. Die ökonomisch herrschende Klasse - die Familie North - reproduziert sich hauptsächlich durch Klonierung (weswegen man auch nicht genau weiß, wer der Tote aus dem Fluss ist) und der Killer ist nicht unbedingt ein Mensch. Hamilton fährt so ziemlich alles auf, was den SF-Leser erfreut: Elemente der klassischen SF, fremde Welten, fremde Biosphären, Aliens, futuristisches Gerät und HighTech, alles sorgfältig ausgepinselt - ein artifizielles Universum wie von Jack Vance, ohne allerdings zu aufdringlich mit physikalischen Details zu nerven. Aber das ist längst nicht alles, was Hamilton an Hybrid-Elementen zu bieten hat: Abenteuerroman (Expedition in unbekannte Dschungelgegenden), Polit-Thriller mit feinen Intrigen und Gegenintrigen, Undercover-Operationen, Mystery. Und siehe: Es funktioniert prächtig. Außerdem kann man in ein solches Epos auch eine Menge nicht allzu oberflächliche behandelte Themen packen: Ökologie und Ökonomie, das technische Machbare und das ethisch Verantwortbare, die sozialen und politischen Implikationen von Fortschritt, Theologie angesichts nicht-menschlichen Lebens. Und natürlich jede Menge Action, fieses Denken und suspense. Im Grunde ist es egal, ob wir es mit einem futuristischen Kriminalroman zu tun haben (Hamilton hatte da mit seiner "Mind Star"-Trilogie schon Maßstäbe gesetzt, ähnlich wie Autoren wie Stanislaw Lem, Harry Harrison oder Richard Morgan, eine lange Tradition auf jeden Fall) oder mit SF cum crimen. Wenn die "Zeichenoperationen" wie hier gelungen sind, spielen Realitäten in solchen Fällen keine Rolle. Spannend und großartig.

Operation Rubikon

Operation Rubikon (Suhrkamp) von Andreas Pflüger ist zwar ein Roman aus dem Jahr 2004. Damals war das Buch - vermutlich wegen eines nicht unbedingt im Fokus der Aufmerksamkeit stehenden Verlags - fast vollständig durchgerutscht. Und das ist schade, gehört »Operation Rubikon« doch zu den vier oder fünf besten deutschen Polit-Thrillern ever. Also auf ein Neues, denn bis auf eine gewisse zeitbedingte Thematik - Drogenkartelle -, die allerdings auch nicht obsolet geworden ist, au contraire, ist das Buch in seiner Perspektive auf die Welt und seiner literarischen Organisation noch absolut aktuell. Es geht um eine geheime Aktion des BKA gegen sich neu formierende Drogenkartelle, die ihrerseits schon längst in der berühmten "Mitte des Gesellschaft" angekommen sind - vor allem durch die personellen und systemischen Verflechtungen mit Wirtschaft und Politik. Das Organisierte Verbrechen sitzt auch in der Regierung, es so zu benennen, ist prekär. Zumal die BKA-Operation, sagen wir mal vorsichtig, wünschenswerten rechtsstaatlichen Standards nicht unbedingt genügt. Wobei solche Standards, noch so benevolent aufgefasst, gegen diese Art globaler OK nichts ausrichten könnten. Was wiederum zu der Sinnfrage eines War-on-Drugs führt: Destruktion, Gewalt, Leichen und Kollateralschäden allerorten. Pflügers beinahe 800 Seiten langer Roman impliziert alle diese Aspekte, didaktisiert sie nicht, mengt keine "Message" bei, sondern löst sie in Action und Handlung auf, wobei sehr nützlich ist, dass er Action beherrscht wie kaum ein anderer, und das ist ein Befund, der nicht nur deutsche Maßstäbe im Auge hat. »Operation Rubikon« entwirft (oder protokolliert?) eine Welt hinter oder unter oder parallel zur "offiziellen" Welt, die man keineswegs überrascht oder empörungsprustend zur Kenntnis nehmen darf, wenn man kein blauäugiges Lämmlein ist. Was sie kein bisschen erfreulicher oder weniger unbehaglich macht. Solche Bücher braucht das Land.

Maria von den abgesägten Gewehrläufen

Portugal immerhin hat sein Buch zur Finanzkrise und den sozialen Verwüstungen, die in Südeuropa endemisch sind: Maria von den abgesägten Gewehrläufen (A1 Verlag) von Ricardo Adolfo. Der aus Angola stammende Autor (für junge Menschen: Angola war bis zur portugiesischen "Nelkenrevolution" 1974 portugiesische Kolonie) inszeniert die Geschichte von Maria, einer ins Prekariat abgestürzten jungen Frau, in den unschönen Suburbs von Lissabon, die sich entschließt, dem Wahnsinn der Welt mit ihrer Schrotflinte zu begegnen, literarisch als komische Groteske, deren sprachliche Ausgefeiltheit die Übersetzung von Barbara Mesquita wunderbar transportiert. Konventionell ist da gar nichts, Adolfo erklärt nichts, er lässt Marias E-Mails reden. Und so entsteht ein bizarrer Kosmos aus Gewalt, Verbrechen, miesem Sex und Drogen, dessen Ursachen - Gier und Profitstreben und der Wunsch, all dem zu entkommen - klar zu erkennen sind. Aber der Roman ist keine Dystopie, sondern hat seine hellen, seine komischen und liebevollen Elemente, die allerdings weder versöhnlich sind noch naiv, sondern sozusagen produktiv und kreativ bissig, kratzbürstig und radikal - und sei's auf die Macht der Schrotflinte gestützt. Gehörte in einer besseren Welt auf jede Best-of-Liste.

Tomboy

Tomboy (Splitter) von Walter Hill, Matz und Zeichner Jef ist, wie nach »Querschläger« vom selben Trio zu erwarten, ein Action-Comic vom Feinsten. Standard und Variation: Frank Kitchen ist ein topisch grüblerischer Killer, der topisch von seinem Auftraggeber gelinkt und niedergeschossen wird. Tot ist er nicht, also wird er sich topisch auf einen Rachefeldzug begeben. Variation: Als Frank nach seiner schweren Verwundung erwacht, stellt er fest, dass man ihn irreversibel zu einer Frau umgewandelt hat. Das Schnipselwerk hat eine irre Ärztin veranstaltet, um sich ihrerseits an Frank zu rächen, der als ganz normalen Job seinerzeit ihren Bruder erschossen hatte. Dass die Ärztin ein bisschen wie Sigourney Weaver aussieht, ist kein Zufall, denn »Tomboy« wird gerade mit ihr und Michelle Rodriguez verfilmt. Womit wir bei Walter Hill wären, auf dessen Drehbuchentwurf das von ihm und Matz umgesetzte Szenario beruht. Hill hat ein paar bahnbrechende Action-Filme gedreht, darunter »Driver« und die böse zynische Yojimbo-Variante »Last Man Standing«. Das färbt natürlich auf Schönste auf den Comic ab, auf seinen Drive, auf seine Erzählstruktur. Die brillanten Bilder von Jef durch ihre Stimmungen, ihre Dynamik und ihre Rhythmisierung all das um. Bei so viel autonomer Ästhetik stört die, sagen wir, mittlere Komplexität der Handlung nicht besonders. Je nach point-of-view kann man sich natürlich fragen, ob die Geschlechtsumwandlung eines Killers zu einer Frau, jetzt der Ausbund an Gemeinheit ist (was könnte schlimmer sein, als eine Frau zu sein?) oder ein netter Gag, um mit Rollenmodellen herumzuspielen, zumal Frank sein Frau-Sein freudig nutzt, um üble Frauenfeinde und Muchomachos aus dem Weg zu räumen. Dass Frauen genauso gute Killer sein können wie Männer, ist natürlich inzwischen auch schon topisch und eher unter Standard zu verbuchen. Tomboy fällt vermutlich unter toys-for-boys, was dem Vergnügen an der Lektüre nicht den geringsten Abbruch tut.

 

© Thomas Wörtche, 2017

 

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