legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Der Marquis als Solitär

Die Werke des Marquis de Sades sind Schlüsseltexte zum Verständnis der Moderne. Pünktlich zu 200. Todestag des Marquis legt der Freiburger Historiker Volker Reinhardt eine de-Sade-Biographie vor, die sich - wie es im Untertitel heißt -, an einer "Vermessung des Bösen" versucht.

Von Thomas Wörtche

 

De Sade oder Die Vermessung des Bösen

Am 2. Dezember 1814, also vor 200 Jahren, starb Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade in Charenton, einem kommoden Irrenhaus. Unsterblich ist er durch den Begriff "Sadismus", geprägt von Richard Krafft-Ebing in dem frühen Meilenstein der Sexualwissenschaft, der "Psychopathia Sexualis". Sadismus liegt vor, wenn nach Sigmund Freud "die sexuelle Befriedigung an die Bedingung geknüpft ist, dass das Sexualobjekt Schmerzen, Misshandlungen und Demütigung erleide". Aber weit über den sexualwissenschaftlichen Begriff hinaus, sind die Werke de Sades Schlüsseltexte zum Verständnis der Moderne, gar zur conditio humana.

Die Rezeptionsgeschichte des sowohl vom Ancien Régime als auch von der Ersten Französischen Republik und danach von Napoleon weggeschlossenen Skandalons de Sade, der noch bis weit ins letzte Jahrhundert die Zensurbehörden beschäftigt hat, ist noch lange nicht abgeschlossen. Sein Leben und Werk scheinen eine gigantische Projektionsfläche für alles zu sein, was sich ästhetisch, philosophisch, moralisch und notfalls politisch oppositionell zum "Mainstream" zu bewegen glaubt.

Die Linie führt von Charles Baudelaires "Les Fleurs du mal" über Lautréamonts "Les Chants du Maldoror" quer durch den Garten der Schwarzen Romantik, beeinflusst den Symbolismus ("den göttlichen Marquis" nannte ihn Guillaume Apollinaire, "den freiesten Geist, der jemals existiert hat"), wird von den Surrealisten beansprucht, von André Breton in seiner berühmten "Anthologie des Schwarzen Humors" subversiv kanonisiert, war Inspirator für die Philosophie der Entgrenzung bei Georges Bataille, war der Regisseur von Peter Weiss' berühmtem Stück "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes von Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" und Vorlagengeber für Pier Paolo Pasolinis "120 Tage von Salò", um nur ein paar Eckpunkte seines Fortwirkens zu erwähnen. Umso erstaunlicher, dass es bisher keine deutsche Biographie gab, die sich mit dem Standardwerk von Jean-Jacques Pauvert: "Sade vivant" (3 Bände, 1986-1990) messen kann. Das zudem noch nicht einmal auf Deutsch vorliegt.

Stattdessen versucht sich der Freiburger Historiker Volker Reinhardt an einer "Vermessung des Bösen", wie der Untertitel seiner aktuellen de-Sade-Biographie verspricht. "Das Böse" ist dabei für ihn kein allzu elaborierter Begriff - die Erzählungen vom hemmungslosen Schänden, Morden, Vergewaltigen, die Blasphemien, das Hohe Lied des konsequenten Lasters - all das ist ihm evident böse genug. Zwischen dem grenzenlos Bösen der Fiktion und den eher zaghaft ausgeübten "Inszenierungen" im richtigen Leben gab es Unterschiede: Der arme Marquis hatte oft Pech mit seinen bezahlten Opfern, seine echten Orgien schienen schon fast komisch immer daneben zu gehen, allerdings kamen immer die angemieteten "Objekte" zu leiblichem Schaden. Reinhardt sieht darin zu recht eine Kluft, die mir allerdings wenig zu erklären scheint. De Sade sei ein "Menschenforscher" gewesen, dessen Erfahrungen mit der Spezies keine guten waren: Heuchelei, Bigotterie und Grausamkeit, Habgier und Wollust, alles abgesichert durch Religion und Philosophie zwangen ihn nachgerade zu seinem bösen Witz, zu den Radikalismen seiner Schriften, zu den Blutorgien und koprophagen Delirien, wie sie sich fast in allen seinen Hauptwerken, den "120 Tagen von Sodom" und den Geschwister-Romanen "Juliette" und "Julienne" austobten oder in den eher dialog-lastigen Werken wie "Die Philosophie im Boudoir" ermüdend wiedergekäut werden. Reinhardts Biographie ist eine wackere Fleißarbeit, die allerdings wenig Neues und wenig Noch-Nicht-Gedachtes zu bieten hat.

Zwei Punkte fallen auf: Reinhardt diskutiert de Sade nicht in der Reihe der erotischen (oder pornographischen) Literatur des Ancien Regimes, also ohne Andréa de Nerciat, Restif de la Bretonne und wie sie alle heißen. So erscheint der Marquis als Solitär, obwohl es selbstverständlich wichtige diskursive Kontexte gibt.

Und Reinhardt diskutiert de Sade und seine Rezeption auch nicht im Zusammenhang der heutigen, der modernen Kriminalliteratur. Letzteres unterscheidet ihn nicht von anderen de Sade-Exegeten wie etwa Peter-André Alt, der in seiner "Ästhetik des Bösen" auch noch nichts von der Literatur gehört zu haben scheint, die Morden und Schänden explizit zum Thema hat. Der Grund liegt vermutlich darin, dass die Vorstellung von Kriminalliteratur als "Form" (die sie nicht ist) oder als "Trivialliteratur" immer noch übermächtig ist. Abgesehen davon, dass die Prosa de Sades keinen hochliterarischen Verdacht erregen kann: Evident scheint mir sein Nachwirken in den Bildern. Oder besser gesagt: eine nach 200 Jahren immer noch bestehende Dominanz.

Auch wenn sich gerade im Subgenre des Serialkiller-Romans à la Karin Slaughter, Mo Hayder, Paul Cleave und Co. die Schlachtungs- und Tötungsrituale, die einlässlich-pedantische Aufzählung von Torturen und Verstümmelungen, von Demütigung und Depravation darum zu bemühen scheinen, den Marquis an ausgesuchter Qual, an widerlichster Devianz und Perversion zu toppen, also den ganzen Schauwert für ein voyeuristisches, angstlustbesessenes Publikum auszufalten, so bleiben doch alle modernen Metzelschreiber weit hinter de Sade zurück. Nicht aus ästhetischer oder moralischer Dezenz - so etwas gibt es im profitorientierten Schockergeschäft nicht - sondern vermutlich aus einer seltsamen Verklemmung und Bigotterie heraus: Bei de Sade geht es, cum grano salis, um Sex, Lust und Wollust. Um Penetration und Orgasmus - bis zum Exzess. Die Bilderwelten des durchschnittlichen Serialkiller-Romans bieten Schmerz ohne Lust. Ihr Bezugspunkt ist nolens volens de Sade, aber sie haben vermutlich seine wahre Radikalität übersehen (wollen?).

Leider versäumt Reinhardts Biographie, de Sade und solche naheliegenden Themen endlich in diese Diskussionszusammenhänge zu setzen.

 

Volker Reinhardt: De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2014, 464 S., 26.95 Euro (D), eBook 21.99 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2014
(Freitag, Nr. 47/2014,
20.11.2014
)

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen