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Beseelte Tiere

Mit einer außergewöhnlichen Erzählperspektive wartet franko-kanadische Autor Wajdi Mouawad in seinem Roman »Anima« auf: Er lässt einen Frauenmord in Montréal und die Aufklärung weitgehend von unterschiedlichen Tieren rapportieren - von Katzen, Goldfischen, Gelbfiebermücken, Möwen und Rotfüchsen. Tragfähige Kritik am anthropozentrischen Erzählen, oder doch ein überladenes Unterfangen?

Von Thomas Wörtche

 

Anima

Wie originell, denkt man zunächst, wenn man mit der Lektüre von »Anima« beginnt. Ein Roman von 445 Seiten, für den sich der libanesisch-kanadisch-französische Autor Wajdi Mouawad - bekannt bisher als Dramatiker - eine außergewöhnliche Erzählperspektive gewählt hat. Beziehungsweise viele Perspektiven, denn »Anima« wird, mit Ausnahme des langen Schlusskapitels, nur von Tieren erzählt. Wie eine Kette von Kameras berichten von einem scheußlichen Frauenmord in Montréal alles, was da kreucht und fleucht, von "Aedes stegomyia aegypti" (Gelbfiebermücke) bis zu "Vulpes Vulpes" (Rotfuchs) und begleiten den Ehemann des Opfers auf der Suche nach dem Mörder.

Mouawad brennt geschickt ein ganzes Feuerwerk an einzelnen "Einstellungen" ab, in dem er sich den biologischen Gegebenheiten seiner "Erzähler" bedient - die Fliege an der Wand, der Rabe, der über dem Geschehen kreuzt, der Marienkäfer, dessen Sinne Dinge wahrnehmen und sinnlich erfahrbar machen, die für Menschen unerfahrbar sind. Aber nach ein paar Kapiteln haben wir es kapiert: Die Welt ist zu komplex, um sie lediglich anthropozentrisch erzählen zu können. Aber wir fragen uns auch, wo ein solches Experiment albern wird - denn die Tiere erzählen ja schließlich, weil an die menschliche Sprache gebunden, anthropozentrisch par excellence.

Natürlich ist eine Technik, wie Mouawad sie verwendet, legitim, sprechende und erzählende Tier sind allerspätestens seit Cervantes' Hund Berganza und der Fabeltradition des 17. und 18. Jahrhunderts Standardpersonal großer Narrative. Bei Mouawad allerdings dienen sie eher dem Herstellen eines seltsamen Realismus - denn die Geschichte der Mörderjagd führt unseren Helden quer über den nordamerikanischen Kontinent, von Indianerreservaten in Kanada bis zum Show Down in den Bergen von New Mexico. Der Täter ist bald bekannt, die Polizei möchte ihn nicht belangen, weil er ihr Spitzel ist, also bleibt dem Rächer nur die Möglichkeit, ihn selbst zu erlegen.

An der Stelle zieht Mouawad ein esoterisches Element ein, laut dem jeder Mensch ein Tier als Äquivalent hat, dessen Seele sich dann als eben dieses Tier manifestiert - oder so. An solchen Stellen wird der Roman wolkig, arkan. Aber der größte Bruch steht noch aus: War das Buch bisher als mehr oder weniger gelungener Eso-Krimi zu lesen, dreht es sich im letzten Drittel: Es geht nicht mehr um die Suche nach dem Mörder, sondern der menschliche Held sucht seinen Adoptivvater, nur um herauszufinden, dass der ein großes Scheusal war und ein blutige Rolle bei dem Massaker in den Palästinenserlagern Sabra und Schatilla im Libanon 1982 war. Der Roman wird zum Aufschrei, zur Anklage, das Massaker wird - wie der finale Kampf zwischen Vater und Sohn - in exzessiven Gewaltbildern geschildert, die als Vergleich höchsten Jerzy Kosinskis "Painted Bird" kennen. Wo aber genau ist der politische Punkt, für den Mouawad die Tier-Ebene erst aufbaut, dann aber, wenn das Thema gewechselt wird, sie fallen lässt und sich für die summierende und wertende Schlusserzählung doch wieder lieber Homo sapiens bedient, dem dadurch die Deutungshoheit zugewiesen wird?

»Anima« ist ein teilweise faszinierendes, teilweise misslungenes und letztlich ein verstörendes Buch geworden. Verstörung kann ein Mittel zur Erkenntnis sein. Hier ist sie das, fürchte ich, eher nicht.

 

Wajdi Mouawad: Anima. (Anima, 2012). Roman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Deutsche Erstausgabe. dtv premium Nr. 26021, Klappenbroschur, 444 S., 16.90 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2014
(Deutschlandradio Kultur,
08.08.2014
)

 

Ein Gespräch mit Thomas Wörtche über Wajdi Mouawads Roman finden Sie auf der Internetseite von Deutschlandradio Kultur unter http://www.deutschlandradiokultur.de/roman-von-tieren-und-menschen.1270.de.html?dram:article_id=294030 oder gleich hier zum Reinhören.

 

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