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Das Netzwerk der gegenseitigen Vorteilnahme

Thomas Wörtche über Jürgen Roth und sein Buch »Der Sumpf«

 

Ob es wirklich reiner Zufall ist, daß von Korruption ausgerechnet jetzt endlich in Deutschland öfters die Rede ist, wo die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der sogenannten "geistig-moralischen Wende" von 1982 und die Strukturprobleme der Wiedervereinigung unübersehbar zu schwären und zu schmerzen beginnen? Jetzt, wo die Konsenskündigung über den Sozialstaat und das frivole Herumpfuschen am Grundgesetz nebst der von interessierten Kreisen deutlich gewollten Demontage des Bundesverfassungsgerichts endgültig mit schöner Offenheit und erheblicher Energie betrieben werden. Jetzt, wo politische "Opposition" deutlich auf die Teilhabe an Macht, aber nicht auf eine Änderung der Zustände zielt.

Das Buch von Jürgen Roth, "Der Sumpf" deutet solche Zusammenhänge durchaus an und beklagt, "daß die verschiedenen Ebenen politischer Korruption bislang viel zu wenig analysiert wurden". Das ist in der Tat richtig, aber ausgerechnet Jürgen Roths Buch selbst ist ein Exempel dafür, wie fatal in die falsche Richtung eine solche Analyse gehen kann.

Denn Roth behandelt nur solche Felder der Korruption, auf denen es evidentermaßen, traditionell und für jeden einigermaßen klarsichtigen Menschen erkennbar nicht koscher zugeht: Bauwirtschaft, Ämterpatronage, Waffenhandel, Polizei und sonst dergleichen. Also Bereiche, über deren Korruptionsanfälligkeit man sich in anderen Ländern noch nicht einmal mehr verständigen muß. Wenn man jetzt, wie Roth, auch für Deutschland auf diesen Feldern Beleg für Beleg aneinanderreiht, genauer gesagt: die in den letzten Jahren ruchbar gewordenen diversen Fälle aus den Tagesnachrichten und politischen Magazinen kompiliert als hätte es, unter Tausenden anderen, die Lockheed- oder die Flickaffäre nie gegeben, als wäre die DDR nicht konstitutiv zur Vorteilnahme Einiger konstruiert gewesen -, dann klingt das nach wenig glaubwürdigem, empörtem Aufplustern, daß ausgerechnet Deutschland (nach der Geschichte!) jetzt auch ein ganz normaler Staat geworden ist. Und vorher wohl eine Insel der Naiven gewesen war? Roth zitiert eine Umfrage, nach der angeblich 85% der Bundesbürger der Meinung sind, "daß Korruption Teil des bundesdeutschen Wirtschaftsalltags sei". Solche Ansichten entstehen nicht über Nacht.

"Korruption in allen möglichen Variationen", so klagt Roth, - und wer wollte da widersprechen - "zerstört zielgerichtet die demokratischen Strukturen", aber "den juristischen Nachweis darüber zu führen, was Korruption bedeutet und wer involviert ist, das ist häufig unmöglich".

Natürlich, es gibt die klaren Fälle: Das Zusammenspiel zwischen Bauunternehmern und städtischen Beamten, die üblichen Schmiergelder zur Erlangung von Aufträgen, Polizisten, die gleichzeitig noch auf anderen Lohnlisten stehen, Richter, die nebenberuflich für Unternehmen als Gutachter arbeiten (das Magazin "Frontal" hat gerade wieder über solche Fälle berichtet) und notfalls von Amts wegen Entscheidungen bezüglich derselben Unternehmen zu fällen haben, politische Entscheidungen, die außer eindeutiger Vorteilsnahme und -gewährung keine anderen rationalen Gründe haben - Jürgen Roth läßt sie alle vor dem je nach Disposition und Informiertheit erschütterten oder gelangweilten Leser jeglichen Geschlechts paradieren.

Man kennt dergleichen Fälle, man kennt sie seit Jahren. Und man wittert Konjunkturrittertum oder Sensationslust, wenn man all dies als erstaunlich, als ungeheuerlich präsentiert bekommt.

Und dann ist da natürlich noch die Mafia, das organisierte Verbrechen oder das Organisierte Verbrechen. Lieblingsthema des Inneren-Sicherheits-Feuilletons und der Wahlkampfbroschüren und Lieblingsmetapher einer konservativen Rhetorik, die endlich mehr Repression durchsetzen möchte (Phase zwei nach dem "Terrorismus von Links") und hier die Möglichkeit sieht, Polizei und Geheimdienste, gar die Armee ganz und gar unrechtsstaatlich miteinander zu verquicken: wg. OK. Die Mafia korrumpiert, das Organisierte Verbrechen dringt in Politik und Wirtschaft ein - so stellt Jürgen Roth die Lage der Dinge dar. Die Politik hindert sich selbst (auch durchaus freiwillig und interessegeleitet) an der Bekämpfung dieser Zustände.

Auffällig ist an Roths Darstellung, der einen bedenklichen Fall an den anderen reiht und auch immer wieder aufrechte und tapfere Staatsanwälte und Polizisten zu Wort kommen läßt, daß sie suggeriert, Korruption, Mafia, Organisiertes Verbrechen (und welche Termini man sonst noch bemühen möchte) seien eine Art Fremdkörper, der wie ein Virus eine Gesellschaft befällt und der, wenn man es nur richtig anstellt, bekämpft und ausgerottet werden kann.

Abgesehen davon, daß die Vermengung von Korruption, Mafia, Organisiertem Verbrechen et al. aus vielen und guten Gründen eher kontraproduktiv denn erkenntnisfördernd ist, gerät Roth zu seinen eigenen Erkenntnissen in Widerspruch. Zwar zitiert er zustimmend den Politologen Erwin K. Scheuch, daß "Ämterpatronage" in der Bundesrepublik Deutschland die "wichtigste Form der Korrumpierung" ist, zieht daraus aber nicht den Schluß, daß dann eben eine Basis, von der aus eine Bekämpfung der zur Debatte stehenden Übel zu bewerkstelligen wäre, auch nicht existiert.

Die Frage müßte ja lauten: Gibt es einen archimedischen Punkt, von dem aus Korruption & Co. nicht nur benannt (denn das nützt ja nichts), sondern auch wirklich aus den Angeln gehoben werden kann? Ein solcher Punkt müßte logischerweise außerhalb der Gesellschaft liegen, mehr noch (nämlich dank der Globalisierung von Politik und Wirtschaft): außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Denn alle internen Aktionen wider einzelne Korruptionsfälle (Aufdeckung, Anprangerung, selbst Entfernung der Schuldigen, wie zur Zeit in Italien) könnten lediglich Teil des allgemeinen Konkurrenzkampfes sein.

Dafür spricht in der Tat einiges: Die Philipinen und ihr als revolutionär gepriesene Austausch des Marcos- gegen den Aquino-Clan etwa (auf den Roth kurz anspielt) wirken lange nicht mehr so exotisch fern, wenn man den Nepotismus betrachtet, der nach einem schlichten Regierungswechsel auf Kommunal- oder Landesebene einsetzt: Er schafft ja nicht die Pfründewirtschaft ab, sondern verteilt die Pfründe nur oberflächlich neu. Das ist auch hierzulande business as usual.

Natürlich kommt auch Jürgen Roth in seinem Buch bald zu dem Schluß, daß ein deutlich zum Ausplündern bereitgestellter Staat (wie auch der unsere) und seine Insitutionen ein Resultat und Produkt der verlotterten und weggebröselten Moralbegriffe, bzw. der real praktizierten "Moral" sind, aber Überlegungen, warum dies so sein könnte, möchte er dann doch lieber nicht anstellen.

Aber, so glaube ich, an diesem Punkt wird das Thema erst wirklich interessant. Die Europaabgeordnete Heinke Salisch nimmt in ihrem bedenkenswerten Nachwort zu Roths Buch noch einmal das Stichwort von der "Ämterpatronage" auf und läßt zumindest die Ahnung aufblitzen, daß es sich dabei nicht nur um parteipolitische Ranküne handelt. "Ämterpatronage" entsteht immer dort, wo das Prinzip des do ut des (also: ich gebe, auf daß du gibst) obwaltet. Also (beinahe?) überall.

Und das funktioniert notfalls auch gegen die offizielle Politik: Erinnern wir uns an die westdeutschen Universitäten nach '68. Zur Befriedung wurden Leute der Opposition (auch der außerparlamentarischen) auf Lehrstühle gesetzt, und siehe, ihre Personalpolitik glich unter umgekehrten Vorzeichen aufs Haar der der zurecht bekämpften Ordinarienuniversität: Wer nicht ins neue Schema paßte, hatte keine Chance. Kompetenz wurde notfalls ein Hinderungsgrund für Karriere, wenn sich die richtige Gesinnung nicht vorauseilend genug artikulierte.

Was ich damit deutlich machen will: Es hat gerade beim Thema Korruption wenig Erkenntniswert, wie das Kaninchen auf die Schlange immer wieder dahin zu starren, wo Korruption und ähnliches sowieso strukturell und konstitutiv am Werke und sozusagen systemimmanent geworden ist.

Interessanter scheinen mir, weil beharrlich nicht thematisiert und diskutiert, die Strukturen zu sein, wo sich "Korruption" nicht unbedingt in Mark und Pfennig berechnen und deutlich nachweisen läßt, wo es um Einfluß, Macht und Prestige auf den verschiedensten Feldern geht.

Die Massenmedien zum Beispiel (ob Verlage, Zeitungen, Sendeanstalten etc.) sind ja nicht nur zum Selbstbedienungsladen für politischen Parteien und Gruppierungen geworden, sondern auch zu Pfründen der jeweiligen "Funktionen" (ob Redakteur, Lektor, Herausgeber, Kulturfunktionär o.ä) und deren persönlicher Klientel, wobei, wie immer, Ausnahmen die Regel zwar bestätigen, aber gleichzeitig auch Hoffnungsschimmer bedeuten.

Die von Roth beklagten Korrosionen von moralischen Kategorien ließen sich anhand der Medien vermutlich am besten demonstrieren. Zum Beispiel die Korrosion von "Qualität" zugunsten von Konformität, also Gruppen- und Interessenkompatibilität. Das auf den ersten Blick so kleine, harmlose und wenig finanzintensive Feld des Literaturbetriebs (inklusive Kritik, Preis- und Stipendienwesen, Förderung etc.) wäre dafür nachgerade ein prototypisches Forschungsgfeld, the world in a nutshell. Interessanterweise wird auch über die Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Büchern über Korruption etwa selten öffentlich nachgedacht. Welche dürfen wo erscheinen, welche nicht? Welche Medien finanzieren welche Recherchen bis zu welchem Punkt? Welche Medien bieten ein Forum für welche Aspekte, welche Themen 'gehen' und warum werden andere abgelehnt? Ad infinitum.

Das allerdings gehört dann doch ins größere Kapitel "Wer bestimmt die Diskurse in diesem Land" -, und damit ist Kultur und Kulturpolitik eben kein kleines, harmloses Nebenfeld mehr.

Heinke Salisch bemerkt auch richtig, daß die Folgen der Ämterpatronage unterschätzt werden: "Gut ausgebildete Beamte werden nach und nach verdrängt, die technische Leistung des Staatsapparates beeinträchtigt und gleichzeitig die Weichen für Korruption gestellt." Klar ist nach diesem Befund auch, daß davon ebenso die Instanzen betroffen sind, die eigentlich diesen Umtrieben Einhalt zu gebieten hätten. Aber auch klar ist, daß solche Verhältnisse nicht nur in Staatsapparaten herrschen. Das Netzwerk der gegenseitigen Vorteilnahme, so darf man vermuten, hat alle gesellschaftlichen Bereiche organisch erfaßt, oppositionelle Strukturen sind schnell erdrosselt.

Aber zum Prinzip "Eine Hand wäscht die andere" gehört immer der zweite Teil: Die "Seife" muß bezahlt werden, von anderen. Die ungehinderte "Freisetzung" von Arbeitskräften zwecks Profitmaximierung, die Miet- und Wohnungspolitik, die Produktion von Sozialfällen zu Lasten der "Gemeinschaft", die Zersplitterung der Gesellschaft in Interessengemeinschaften und das Ausstoßen aller derjenigen, die keiner solchen Interessengemeinschaft angehören (konstitutiv oder habituell) aus dem Gemeinwesen, das alles hat mit der gerade noch mühsam ausbalancierten Zwei-Drittel-Gesellschaft zu tun. Solange Er- und Aufklärungsversuche wie der von Jürgen Roth diese Zusammenhänge nicht explizit machen, prangern sie lediglich oberflächliche und evidente Symptome an. Sie sind noch tief in altbundesrepublikanischen Denkmustern verfangen, im schlimmsten Fall funktionieren sie wie ein Ablenkungsmanöver.

Denn mit der Wiedervereinigung sind zwei jeweils ausgefaltete und voll entwickelte Systeme von "Korrumpierung" und "Korruptheit" aufeinandergestoßen und müssen sich jetzt miteinander arrangieren. Man müßte unter einem Titel wie "Der Sumpf" dringend den Einigungsvertrag behandeln und seine Implikationen ventilieren. Man müßte die Treuhandanstalt auf dieser Folie viel einläßlicher betrachten als dies Roth tut, die Medienpolitik, die Schnittmengen der alten West- und Oststrukturen, die jeweiligen Verträglichkeitsstrategien etc. etc. Und die Folgen für die Menschen. Das Auflisten einzelner "Fälle", das auch hier Roths Methode ist, (die KoKo, der Treuhandskandal in Halle) verdeckt möglicherweise nur systemische Merkmale.

Immerhin räumt er ein, seine schwache Hoffnung, daß sich "das politische und gesellschaftliche Klima verändert, in dem Korruption gedeihen kann", sei möglicherweise nur eine "Seifenblase". Ich halte eine solche Resignation (oder Panikmache?) für symptomatisch und für den Ausweis einer bestimmten kulturellen Prägung: Es gibt in Deutschland keinen pragmatischen Unterboden für eine illusionslose Einschätzung von Realitäten - möglicherweise eine Spätfolge der deutschen, 'idealistischen' und romantischen Geistesgeschichte. Die ist bekanntlich von Beamten wesentlich beeinflußt worden, hat sich seit spätestens dem 18. Jahrhundert durch eine obstinate Realitätsverweigerung ausgezeichnet und immer abstrakte und hehre Begriffe den Realien vorgezogen hat.

Hier liegt, glaube ich, das spezifisch deutsche Problem im zögerlichen, verdrängenden Umgang mit globalen Phänomenen wie Korruption & Co: Das Fehlen einer bestimmten kulturelle Praxis, d.h. der Mangel an realitätsverarbeitender (nicht realitätssimulierender oder realitätsverachtender) Literatur, Film und Kunst überhaupt, rächen sich ex post und by doing: Denn die in Deutschland praktizierte Kultur stellt eben nicht solche "gesamtgesellschaftlichen Konsense" bereit (die nach Habermas bekanntlich wesentlich von der kulturellen Praxis geprägt werden und auf die gesellschaftliche Praxis zurückwirken) oder übt sie ein, vermittels derer sich gegen schlimme Verhältnisse etwas ausrichten läßt - skeptisch, kritisch, pragmatisch, gar mit Witz & Esprit, jedenfalls ohne schon a priori die Schlacht unter jaulender moralischer Empörung, verbiestertem, reinlichkeitsfanatischem Anrennen und letztendlich konformistischer Resignation verloren zu geben. Kultur & Gesellschaft erweisen sich gerade an solchen heiklen Punkten sehr wohl als unabdingbar zusammengehörig. Wenn sich die Kultur in die engen Räume des "Reinen", des Kontextfreien wegdrängen läßt (oder freiwillig verkriecht), dann stecken dahinter auch gesellschaftliche Interessen. Die Korruption hat die "Kultur" schon lange erreicht. Sie hätte es nicht, wenn da nichts zu holen wäre. Ein erster Schritt zum produktiveren Umgang mit dieser Lage wäre, sich den Realitäten wirklich zu stellen, sie klar und deutlich zu benennen und zu beschreiben. Was dagegen Roth - willentlich oder nicht - tut, scheint mir letztlich eine Spielart der Camouflage. Fromme Virologie statt klarem Ketzerblick aufs zoon politikon. Jürgen Roth: Der Sumpf. Korruption in Deutschland. München und Zürich: Piper Verlag 1995. 334 Seiten, DM ? Thomas Wörtche

© Thomas Wörtche, 1996
(Freitag)

 

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