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Obskur und unwichtig

Thomas Wörtche über Reclams Krimi-Lexikon

 

Reclams Krimi-Lexikon Kriminalliteratur boomt, der Markt wird immer unübersichtlicher. Nichts brauchen Leser mehr als verlässliche Informationen über ihr Lieblingsgenre. »Reclams Krimi-Lexikon« bietet das Gegenteil. Es ist absurd schlecht, total unbrauchbar und oft falsch. Die minimalen Standards für ein Nachschlagewerk sind nicht eingehalten. Die Katastrophe ist so flächendeckend, dass sie nur einen Schluss zulässt: Dieses Buch muss sofort eingestampft werden.

Das »Lexikon« bietet keine Informationen über die Autoren. In den allermeisten Fällen gibt es keine biografischen Angaben, keine Bibliografie, keine Verweise auf Pseudonyme. Über die Genregrenzen hinaus bedeutende Schriftsteller des 20. Jahrhunderts haben anscheinend nur ein Buch geschrieben, sonst ist über sie nichts erwähnenswert: Ross Thomas oder Chester Himes etwa. Dieses eine Buch wird auf Schulaufsatzniveau nacherzählt. Es steht weder im Kontext des Oeuvres noch in dem des Genres noch in dem der Literaturgeschichte. Über einen der wichtigsten Vertreter des Genres, Jim Thompson, heisst es nur: »Ähnlich wie J.M. Cain ist JT ein Porträtist des hässlichen Amerika, zu dessen Alltag Brutalität, Korruption und Machtgier gehören.« Das ist angesichts des Einflusses von Thompson erbärmlich.

Zudem fehlen bedeutende Autoren: Elmore Leonard, Joseph Wambaugh, James Crumley, George V. Higgins, James Lee Burke, Thomas Adcock, Dorothy Uhnak, Julian Rathbone, Charles McCarry, Robert Littell, John Harvey, Arthur W. Upfield ... So ginge es noch mindestens eine engbedruckte Zeitungsseite weiter. All das sind keine Geschmacksfragen. Das Lexikon ignoriert die Kernbereiche des Genres. Dafür sind ungefähr 60 Prozent aller erwähnten Autoren unwichtig, obskur oder unpassend (wie etwa Lawrence Norfolk). Im intellektuell verheerenden Vorwort redet der Herausgeber von der anglo-amerikanischen Dominanz, die gebrochen sei, weil inzwischen andere Kontinente auf der kriminalliterarischen Landkarte auftauchten. Der zweite Teil des Satzes ist sicher richtig. Aber warum fehlen dann bei ihm die wichtigsten Lateinamerikaner: Paco Ignacio Taibo II, Rubem Fonseca, Patrícia Melo, Jorge Luis Borges, Luis Sepulveda, Santiago Gamboa plus zwanzig andere? Wo ist der Südafrikaner James McClure? Wie sieht es mit Asien aus?

Aber man muss gar nicht so weit weg gehen. Spanien ohne Andreu Martín oder Juan Madrid. Frankreich, ein ganz düsteres Kapitel: Didier Daeninckx, Pierre Siniac, Jean Vautrin et al. - alles Fehlanzeige. Wir können das an jedem einzelnen Land durchdeklinieren.

Kommen wir zu den bizarren Einschätzungen des Herausgebers. Eric Ambler hat die Vorlage für den Film »Topkapi« geliefert und weitere Werke. Mehr erfahren wir nicht. 1 1/2 Spalten müssen für ihn reichen. Wer aber ist in dieser Unlogik Ambler verglichen mit einer Angelika Buscha (ein Roman, 2 Spalten). Auch Georges Simenon (4 Spalten) ist eher unwichtig, gemessen an Henning Mankell und Philipp Kerr (10 resp. 11 Spalten). Diese groteske Schieflage zieht sich durchs Buch, weshalb auch ein rein deutsches Phänomen wie Akif Pirinçci bedeutender ist als eine Autorin von Weltrang wie Sara Paretsky.

Zudem hat der Herausgeber nachgerade ein Totenhändchen dafür, aus dem Oeuvre vieler Autoren ausgerechnet den untypischsten Text zu behandeln: Bei Jerome Charyn gibt es die Isaac-Sidel-Romane als Projekt nicht, geschweige denn seine vielfältigen anderen Romane, Comics, Reportagen und Sachbücher. Auch dieses Prinzip lässt sich durchgehend belegen. Das Lexikon ist obendrein nicht faktensicher (wie im Fall von Walter Mosley). Grobe handwerkliche Fehler kommen hinzu. Mit diesen Beispielen, wie gesagt, ist das Mass der Bodenlosigkeit höchstens angedeutet. Dieses Pseudo-Lexikon muss schnell vom Markt verschwinden. Ein Verlag mit gutem Namen kann es sich nicht leisten.

Klaus-Peter Walter (Hg.): Reclams Krimi-Lexikon. Stuttgart: Reclam, 2002, 485 Seiten, 28.90 Euro (D)

 

© Thomas Wörtche, 2002
(Sonntagszeitung, 06.10.2002)

 

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