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Das Spiel um Sein und Schein

Thomas Wörtche über Jerry Oster

 

New York City ist eine Stadt, die bis zum Platzen vollgepackt ist mit Geschichten. Jerry Oster erzählt solche Stories. Und während er das tut, erzählt er tausend andere Geschichten. Eingelagerte Geschichten. Geschichten, die aus Abschweifungen herauswuchern. Geschichten von "damals", Geschichten von Menschen, die Jerry Osters Universum in seinen bislang zehn Romanen über Metropolis bevölkern. Alte Geschichten und Geschichten, die um Haaresbreite so nicht passieren, aber passieren könnten. Und alle diese Geschichten münden in die Hauptgeschichte, die ihrerseits wieder in tausend Nebengeschichten zerfällt.

Romane von Jerry Oster sind auch Texte, die aus Stimmen zusammengesetzt werden. Diese Stimmen reden in tausend Zungen, in verschiedenen Sprachen. Sie gehören zu Menschen aus Fleisch und Blut, sie dringen aus Radios und Fernsehern, sie sind Soundbits unbestimmbarer Herkunft, aber allgegenwärtig. Sie tönen von CDs und Kassetten, von den Tonspuren der Filme, die die Menschen sehen oder gesehen haben. Es wird geplappert und geschwatzt, laut gedacht und leise bramabarsiert. Die sicheren Eckpfosten in diesem Dauerstrom bilden Leitmotive, identische oder fast identische Wiederholungen von Phrasen, Sätzen, Sequenzen und Passagen, die mit- und gegeneinander gesetzt sind, sich kommentieren, kommunizieren oder deutlich nicht kommunizieren. Das Kompositionsprinzip der Texte arrangiert das Chaos, das der Schriftsteller Oster vorfindet, wenn er sich auf das Sujet einläßt, das sein Thema ist: New York City.

Die Realität der Stadt liegt nicht nur präformiert herum und wartet darauf, abgebildet und als ein Stück "Literatur" konsumierbar, zum Erfahrungssurrogat zu werden, sondern sie ist von tausend anderen Blicken, Stimmen, medialen Formen "gemacht", sie entzieht sich der unmittelbaren, der naiven Wahrnehmung und erst recht der künstlerischen Verdoppelung. Das ist die eine Ebene, auf der Osters Kunst agiert, die Ebene der Sprachspiele, des Umgangs mit dem, was Literatur literarisch macht, was ihr Material ist, was sie vor anderen Künsten ausweist. Die andere Ebene ist die Realität, die von ästhetischen Begrifflichkeiten nichts weiß, aber dennoch immer da ist: Die Gewalt, die Menschen, deren Beziehungen untereinander, die Politik, der groteske Aberwitz, der zwangsläugig dort auftritt, wo Geographie und Bevölkerung einen enormen Verdichtungsgrad erreicht haben, wo Interessen aufeinanderknallen, wo sich die Problemlagen der gesamten "Zivilisation" prototypisch kristallisieren. Eine aus der unendlichen Anzahl der möglichen Geschichten, die diese Realität bereithält, die diese Realität konstituieren, herauszugreifen, ist die Reduktion, die ein Autor verantworten muß.

In seiner ersten Arbeit fürs Radio, dem Zweiteiler "Lonelyville", konzentriert sich der in New Mexico geborene Oster auf eine für seine Verhältnisse einfache Geschichte. Ein schlichter, einfacher Mord an einem Geschäftsmann, der dem Kriminalreporter Jerry Oster - diesen Beruf hatte er lange ausgeübt, bevor er anfing, Fiction zu schreiben - kaum eine Schlagzeile wert gewesen wäre und wenn, dann höchstens, weil das Opfer politische Ambitionen gehabt hatte.

Für den Schriftsteller Jerry Oster aber fangen die Dinge dann an, interessant zu werden, wenn sie nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Dann nämlich beginnt das Spiel um Sein und Schein, um Trug und Illusion, um Identitäten. Wer ist wer und was sagt uns der Anschein? Was hat es mit einer Malerin auf sich, die Porträts malt, aber nicht mal gefilmt werden will?

Und dann ist da der "Human Factor" - in dieser Stadt der gnadenlosen Geschäfte, der eiskalten Ambitionen und dem Ehrgeiz, der über Leichen geht. Dieses konkrete Klima der Post-Reagonomics ist in die Herzen der Menschen eingezogen, es macht etwas mit und aus Leuten. Und sei's Mörder. "Lonelyville" bestätigt einmal mehr eine Vermutung, die immer weitere Nahrung bekommt: In welcher Form auch immer sich Kunst - ob Literatur, Film oder Hörspiel - versucht, sich der Realitäten anzunehmen, fast zwangsläufig läuft es auf eine Kombination mit "Kriminal" hinaus. In unserem Fall: Ein Kriminalhörspiel.

© Thomas Wörtche, 1996
(WDR)

 

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