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Spione auf hoher See

Patrick O'Brians Aubrey/Maturin-Romane sind alles andere als schlichte Krawumm-Schmöker.
Von Thomas Wörtche

 

Master and Commander Ist Patrick O'Brian »der beste Schriftsteller, von dem man nie gehört hat«, wie vor ein paar Jahren die Washington Post fragte? Vermutlich ja, aber so einfach ist die ganze Angelegenheit nicht. Es fängt damit an, dass Patrick O'Brian kein Ire war, wie der Name nahelegt. In Dublin ist er lediglich 2000 gestorben, ironischerweise während seines ersten Aufenthalts auf der grünen Insel. Geboren wurde er am 14. Dezember 1914 in der Nähe von London und hiess bis zum Juli 1945 Richard Patrick Russ. Erst dann nannte er sich hochoffiziell um. Bis es soweit war, hatte er eine immer von Geldsorgen seiner Eltern überschattete, aber relativ normale Mittelklassen-Jugend sowie eine erste Karriere als Verfasser von hochgelobten Kurzgeschichten und Romanen hinter sich. Während des 2. Weltkrieges arbeitete er im britischen Geheimdienst. Was er dort neben einem Job in der Propagandaabteilung genau trieb, weiß man nicht. Er war verheiratet und hatte einen Sohn. All dies ließ er mit seiner Namensänderung hinter sich und zog mit seiner zweiten Frau Mary erst nach Wales, dann in das kleine Städtchen Collioure im französischen Teil Kataloniens. Als O'Brian startete er eine zweite literarische Karriere, ohne sich je auf seine erste zu beziehen.

Auch O'Brians Romane und Short Stories hatten gute Kritiken und karge Verkaufszahlen. In Collioure gab es allerdings einen Gast, mit dem er sich anfreundete: Picasso. O'Brian nutzte diese persönliche Verbindung, um eine Picasso-Biografie zu schreiben, die für geraume Zeit die Standardbiografie des Jahrundertgenies blieb. Aber erst ein genialer Zufall ermöglichte es ihm, sein eigenes Jahrhundertprojekt in Angriff zu nehmen. Er übersetzte (neben den Werken von Simone de Beauvoir) Henri Charrières »Papillon« ins Englische und verzichtete zugunsten einer Gewinnbeteiligung auf ein Honorarfixum. Der Rest ist Geschichte: »Papillon« wurde ein Weltbestseller und Patrick O'Brian konnte 1969 den ersten Band seines Gigaprojekts in Angriff nehmen: »Master and Commander«, der erste von 20 Romanen über einen Offizier der Royal Navy, Jack Aubrey und seinen Schiffsarzt Dr. Stephen Maturin, die sich im April 1800 auf der britischen Flottenbasis Menorca treffen, beinahe duellieren und bis zum Ende der napoleonischen Kriege unzertrennliche Freunde bleiben. Heute haben die Aubrey/Maturin-Romane in den USA 6 Millionen Bücher verkauft, im UK immerhin deren 3 und der Peter-Weir-Film wird der weiteren Verbreitung dieses seltsamen Duos nicht hinderlich sein.

Nur große Literatur vermutete lange niemand hinter Abenteuerschoten auf See. Sie muten wohl zu sehr an wie Nachzieher schlichter Krawumm-Schmöker wie C.S. Foresters »Hornblower«-Romane oder Alexander Kents patriotischen Blut-und-Eisen-Schwarten. Nichts jedoch wäre falscher: Patrick O'Brian, der noch als Mr. Russ keine Chance hatte, von der Royal Navy genommen zu werden (auch bei Air Force flog er bald wieder raus), und der jahrzehntlang das Leben eines verarmten Landedelmanns führte und auch nie zur See gefahren ist, errichtete einen Kosmos aus purer Imaginationskraft, vergleichbar in seiner Dimension und Vielschichtigkeit höchstens mit Tolkiens »Herr der Ringe«-Saga. Mit dem Unterschied allerdings, dass O'Brian das frühe 19. Jahrhundert derart korrekt rekonstruierte, dass es selbst gestandenen Fachleuten den Atem verschlug. O'Brians Romane sind ein Kompendium des Wissens dieser Zeit: Biologie, Mathematik, Medizin, Nautik, Astronomie, Musik und Literatur, Politik und Gesellschaft, alles ist bis ins Detail belegbar und dennoch keine Sekunde museal, staubig oder langweilig. Denn seine Erzählprosa ist so wuchtig, dass es ihm selbst noch gelingt, den obskursten nautischen Jargon, den er pausenlos auf die Leser niederprasseln läßt, als sinnliche Wortkaskaden mit durchaus wollüstigem Effekt zu inszenieren.

So entsteht ein fast grell leuchtender Hyperrealismus, der nahe am Surrealismus siedelt, ohne je wirklich umzuschlagen. Wenn unsere Helden auf ihrer Fregatte »HMS Surprise« (auch sie natürlich ein historisches Schiff von der Mastspitze bis zum Kielschwein) tausende von ereignislosen Meilen durch den Pazifik fahren und sich O'Brian herausnimmt, genau dieses Ereignislosigkeit zu erzählen, dann segeln selbst abgebrühte Leser mit, angetrieben durch die schiere Kraft der Prosa. Bei der Stange gehalten durch die extrem fein ziselierten Figuren: Jack Aubrey, der bullige, später fette professionelle Soldat mit seiner Neigung zu Peinlichkeit, unsoliden Finanzgeschäften und außerehelichen Abenteurn, notfalls brutal und menschenschinderisch bis zum Anschlag, dann wieder ein benevolenter, leicht naiver Tyrann, aber ein Meister seines Berufs.

Stephen Maturin ist zwar irisch-katalanischer Herkunft, riskiert aber dennoch loyal für den britischen Geheimdienst seine Haut. Maturin ist ein klassischer Aufklärer, den Enzyklopädisten und Naturforschern über nationale Grenzen hinweg verbunden - er steht mit Alexander von Humboldt in Kontakt und natürlich auch mit seinen französischen Kollegen. Und trotzdem ist er glühender Anti-Bonapartist, ein gerissener Spion, der notfalls auch eiskalt Gegner eliminieren kann. Aubrey frißt und säuft zuviel, Maturin ist erst Opiumesser, dann Koka-Kauer, beide sind alles andere als strahlende Helden. Und auch die Epoche der »wooden ships and iron men« ist alles andere als heroisch in O'Brians Darstellung. Eine barbarische Klassengesellschaft, in der Menschen unter unglaublichen Bedingungen existieren müssen.

Auf den Kriegsschiffen wüten Krankheiten und Seuchen, jedes Gefecht ist ein widerwärtiges Gemetzel und die politische Großwetterlage von eisigster Zweckmäßigkeit geprägt. Und weil O'Brian die Politik während der sogenannten »Koalitionskriege« gegen das napoleonische Frankreich nie aus den Augen verliert, egal, ob Aubrey und Maturin im Mittelmeer operieren, im Pazifik, in der Antarktis, vor Australien oder in der Ostsee, ist der ganze Zyklus gleichzeitig der perfekteste Zyklus von Spionageromanen neben Le Carrés »Smiley«-Romanen. Mit einer verblüffenden Cliffhanger-Technik sorgt O'Brian immer dafür, dass man das nächste Buch lesen muß (wider jedes Zeitmanagment in einem Zug) und dass sich die Intrigen fortspinnen. Und er erlaubt sich, mit der Zeitgeschichte zu spielen. So sind die beiden englischen Verräter Wray und Leward schlicht die historischen Ausgaben von Burgess und MacLean und werden, anders als die Vorbilder aus dem 20. Jahrhundert, genüßlich von Dr. Maturin mittels Sektion entsorgt.

Ohne Zweifel, hintereinder gelesen haben Faser, Textur und Prosa des Zyklus, seine große Themen Freundschaft, Loyalität und Verrat, eine ähnliche Komplexität und Tiefenschärfe wie Prousts »Recherche«. Dass man sowas auf Kriegsschiffen des 19. Jahrhunderts ansiedeln und auch noch rasend spannend in Literatur umsetzen kann, mag Feingeistern bis jetzt verborgen geblieben sein. Aber Patrick O'Brian zu ignorieren, heisst einen der größten Erzähler des 20.Jahrhundert zu ignorieren. Und das kann man sich nicht leisten.

 

© Thomas Wörtche, 2003
(Sonntagszeitung, 23.11.2003)

 

Für Patrick O'Brian Einsteiger:

Fangen Sie unbedingt mit den ersten beiden Bänden an: »Kurs auf Spaniens Küste« und »Feindliche Segel«. Sie finden sonst nicht mehr in das riesige Figurenensemble rein. Alle Romane sind bei Ullstein im Taschenbuch erhältlich.
      Besorgen Sie sich den opulenten Prachtband: »Nelson's Navy« von Brian Lavery (Conway Maritime Press). Da haben Sie viele wichtige Informationen zur Zeit und alles über Segelschiffe.
      Lesen Sie erst dann die etwas lieblos aufgemachte Patrick O'Brian Biographie von Dean King: »Patrick O'Brian. Der Mann, der zweimal lebte.« (Ullstein Taschenbuch).
(TW)

 

Die Aubrey/Maturin-Romane:
Master and Commander
[London: Collins, 1970]
1970 Kurs auf Spaniens Küste.
Das erste Kommando des Jack Aubrey
[München: Ullstein, 2001]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1996]
[München: Droemer Knaur, 1995]
Post Captain
[London: Collins, 1972]
1972 Feindliche Segel
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer Knaur, 1997]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1996]
H.M.S. Surprise
[London: Collins, 1973]
1973 Duell vor Sumatra
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer Knaur, 1997]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1996]
The Mauritius Command
[London: Collins, 1977]
1977 Geheimauftrag Mauritius
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer Knaur, 1998]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1997]
Desolation Island
[London: Collins, 1978]
1978 Sturm in der Antarktis
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer Knaur, 1999]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1998]
Fortune of War
[London: Collins, 1979]
1979 Kanonen auf hoher See
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer, 1999]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1998]
The Surgeon's Mate
[London: Collins, 1980]
1980 Verfolgung im Nebel
[München: Ullstein, 2001]
[München: Droemer Knaur, 2000]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1998]
The Ionian Mission
[London: Collins, 1981]
1981 Die Inseln der Paschas
[München: Ullstein, 2002]
[München: Droemer Knaur, 2000]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1998]
Treason's Harbour
[London: Collins, 1983]
1983 Gefahr im Roten Meer
[München: Ullstein, 2002]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1999]
Far Side of the World
[London: Collins, 1984]
1984 Master and Commander.
Bis ans Ende der Welt
[München: Ullstein, 2003]
[München: Ullstein, 2002 unter dem Titel »Manöver um Feuerland«]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1999 unter dem Titel »Manöver um Feuerland«]
The Reverse of the Medal
[London: Collins, 1986]
1986 Hafen des Unglücks
[München: Ullstein, 2002]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1999]
The Letter of Marque
[London: Collins, 1988]
1988 Sieg der Freibeuter
[München: Ullstein, 2003]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 1999]
The Thirteen-Gun Salute
[London: Collins, 1989]
1989 Tödliches Riff
[München: Ullstein, 2003]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 2000]
The Nutmeg of Consolation
[London: Collins, 1991]
1991 Anker vor Australien
[München: Ullstein, 2003]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann-Club, 2000]
The Clarissa Oakes
[London: Collins, 1992]
[New York: W.W. Norton, 1992 unter dem Titel »The Truelove«]
1992 Inseln der Vulkane
[Berlin: Ullstein, 2001]
[Rheda-Wiedenbrück: Bertelsmann Club, 2000]
The Wine-Dark Sea
[London: HarperCollins, 1993]
1993 Gefährliche See vor Kap Hoorn
[Berlin: Ullstein, 2002]
The Commodore
[London: HarperCollins, 1994]
1994 Der Triumph des Kommodore
[Berlin: Ullstein, 2004]
The Yellow Admiral
[New York: W. W. Norton, 1996]
1996 Der gelbe Admiral
[Berlin: Ullstein, 2004]
The Hundred Days
[London: HarperCollins, 1998]
1998 Mission im Mittelmeer
[Berlin: Ullstein, 2004]
Blue at the Mizzen
[London: HarperCollins, 1999]
1999 Der Lohn der Navy
[Berlin: Ullstein, 2005]
The final unfinished voyage of Jack Aubrey
(Roman-Fragment)
[London: HarperCollins, 2004]
2004

 

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