Am 19. Dezember wäre Jean-Patrick Manchette (1942-1995) sechzig Jahre alt geworden. Er war der grosse Erneuerer nicht nur des französischen Kriminalromans und einer der Befreier des Genres aus dessen formaler und inhaltlicher Beschränkung. Er hat den roman noir auf seine Essenz von Gewalt und Tod reduziert. Wie, das zeigt der Roman »Ô dingos, ô châteaux« von 1972, der jetzt in neuer deutscher Übersetzung als »Tödliche Luftschlösser« vorliegt. Der magengeschwürgeplagte Killer Thompson soll ein Kind umbringen, das einem irren Philanthropen und Multimillionär im Wege ist. Aber Thompson hat die Rechnung ohne das Kindermädchen Julie gemacht. Sie kommt frisch aus der Psychiatrie und hat keinerlei Hemmungen zu töten. Die Gewalt nimmt ihren Lauf. Manchette inszeniert sie eisig (»Das 9-mm-Projektil drang unterhalb von Bibis Rippen ein, ließ die Leber platzen und trat durch das Gesäß wieder aus«), hält sich nicht mit Motivationen auf und mutmaßt nicht über die Psychologie der Figuren. Er übersetzt alles in Action pur.
In Manchettes Welt gibt es keinen Trost. Er hat dem Kriminalromam jede Versönlichkeit, dem Leser jede Identifikationsmöglichkeit genommen.
Das ist nicht schön, aber feine Literatur.
© Thomas Wörtche, 2002
(Sonntagszeitung, 15.12.2000)
Jean-Patrick Manchette: Tödliche Luftschlösser. Dt. von Stefan Linster. Heilbronn: DistelLiteraturVerlag 2002. 194 S., 10.80 EUR