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Von der Leidenschaft als literarisches Trüffelschwein

Thomas Wörtche über lateinamerikanische Literatur in der metro-Reihe des Unionsverlags. Ein Vortrag.

 

Nette ironische Pointen mag ich gerne. Wenn zum Beispiel eine rezeptionsforschende Tagung mit einem rezeptionstheoretischen Essential aufwartet, das niemand an dieser Stelle vermutet hätte. In dem berühmten Aufsatz von Wolfgang Iser »Die Appellstruktur der Texte« heisst es nämlich an signifikanter Stelle: »Die Wirklichkeit der Texte ist immer erst eine von ihnen konstituierte und damit Reaktion auf Wirklichkeit.«

Neu war mir dabei nur, dass das auch für die Textsorte der »Tagungsankündigungen« gilt - denn dort heisst es über mich: »Thomas Wörtche, Lateinamerikaprogramm des Unionsverlags, Zürich«. Nun haben weder der Unionsverlag noch ich das je so gesehen, dass wir innerhalb unseres globalen Konzepts ein spezielles Lateinamerika-Programm hätten, aber wer bin ich, Wolfgang Iser zu widersprechen? Und nehme also den Ankündigungstext dieser Tagung als Reaktion auf die wirkliche Wirklichkeit und schaue mir die neue, konstituierte Wirklichkeit an.

Für einen spätgeborenen Verlag, der erst in den frühen 1980er zur vollen programmatischen Ausfaltung gelangt ist, war es natürlich schwierig, nach dem Lateinamerika-Boom der 1970er Jahre eben diesen Kontinent so gewichtig verlegerisch zu repräsentieren, wie es Unionsverlag etwa mit Autoren aus dem arabischen oder türkischen Sprachraum verstanden hat. Die wichtigen Autorinnen und Autoren hatte schon längst ihre verlegerische Heimat gefunden. Das globale Konzept des Unionsverlags, das damals noch eher unter dem Schlagwort Literatur von den Rändern der Welt lief, liess es auch nicht zu, Texte aus der vierten oder fünften Reihe zu akquirieren, nur um eine geographische Position zu besetzen - oder um Talente mit ungewisser Zukunft und ungewisser Perspektive (denn Boom-Jahre sind auch immer Hype -Jahre) gegen den mainstream der Etablierten zu setzen.

Zweitens begann da schon, die Logik der begrenzten Programmplätze zu greifen, die ein unabhängiger (Klein/Mittel-) Verlag als Strukturelement immer hat, eine Art programmatischer Pointillismus setzte ein, der mit dem grossen chilenischen Erzähler Francisco Coloane einen ersten Farbtupfer setzte. Später gesellten sich der Costa Ricaner José León Sánchez und der Argentiner Eduardo Galeano dazu, nebst dem wunderbaren guatemaltekischen Lyriker Huberto Ak`abal - mit Ausnahme von Galeano vielleicht, alles Autoren, die man als zumindest unterschätzt oder durch die üblichen Maschen der Nobilitierungssysteme gefallen, bezeichnen könnte.

Von einem Lateinamerika-Programm im strengen Sinn des Wortes konnte also keine Rede sein, höchstens vom Interesse an einzelnen Autoren. Einem Interesse wiederum, das im Rahmen des globalen Verlagskonzepts zwar Lateinamerika pointiert repräsentierte, aber nicht vor anderen Kontinenten auszeichnete.

Der Eindruck eines eigenen, ausgebauten Lateinamerika-Programms konnte also vermutlich erst ab dem Jahr 2000 entstehen, als das neue Programmsegment metro - das ich in der Tat zu betreuen die Ehre habe - auf dem Markt erschien, und in der Presse, unbescheiden gesagt, freudig begrüsst und von den Lesern freudig gekauft wurde.

Mit metro verhält es sich nun aber so, dass dies ein Programm ist, das sich im ganz im Sinne des allgemeinen Unionsverlag-Programms analog der weltweit produzierten Kriminalliteratur widmet. Oder Spannungsliteratur, wie ich lieber sage, um mich nicht in endlose und unfruchtbare Genre-Diskussionen und vor allem Wertungsdebatten zu verwickeln.

Erschienen bei metro sind bis heute die Autoren Guillermo Arriaga und Paco Ignacio Taibo aus Mexiko, Santiago Gamboa und Jorge Franco aus Kolumbien, Pablo de Santis aus Argentinien, Leonardo Padura aus Kuba, sowie Rubem Fonseca aus Brasilien, teilweise mit mehreren Büchern. Das ist natürlich zunächst einmal ein klarer Quantitätssprung. Dennoch kann von einer Lateinamerika-Dominanz noch nicht die Rede sein, denn auch alle genannten metro-Autoren stehen im Konzert mit solchen aus u.a. Hongkong, Algerien, der Türkei, Norwegen, Frankreich, Thailand, Australien und sogar den USA und England.

Aber, ohne Zweifel, die lateinamerikanischen metro-Autoren bilden einen starken Akzent. Wahrgenommen allerdings werden sie nicht als »Krimis, die mal wo anders spielen« - dieses Segment unter dem Schlagwort »Mord-&-Salsa« bedient die Literatur-Klon-Industrie angelsächsischer oder auch zunehmend deutscher Provenienz zur Genüge -, sondern als wichtige literarische Stimmen ihrer jeweiligen Länder. Und damit auch als wichtige Indikatoren dafür, was Kriminalliteratur sui generis ästhetisch, kulturpolitisch und damit gesellschaftspolitisch und global gesehen leisten kann, wenn sie dem Produktionsdruck des nur »leicht unterhaltenden und gut Verkäuflichen« entkommen konnte.

Zwei Beispiele - der Roman »Rosario Tijeras« des Kolumbianers Jorge Franco war in seinem Heimatland ein literatur- und gesellschaftspolitisches Ereignis sondergleichen: 300.000 verkaufte Exemplare innerhalb weniger Wochen, das sind Zahlen, die man sonst mit García Márquez in Verbindung bringt. Franco schneidet in seinem Buch sämtliche magischen, metaphysischen und auch soziologischen Dimensionen ab, die auf »strukturelle Gewalt« in einem in der Tat gewaltätigen Land zielen, und schildert das, was diese Gewalt mit Menschen macht, mit Tätern (in dem Fall einer Täterin), mit Opfern, mit deren Umwelt. Er tut das nicht im Sinne eines irgendwie gearteten Realismus, sondern mit literarischen Verfahren der Moderne (der Moderne nach der Postmoderne, nämlich). Das Ergebnis ist kein Krimi, wohl aber ein Kriminalroman, der sich ganz konkret und mit gewaltigem Echo und gewaltiger Resonanz in Realitäten einmischt - für europäische Konzepte des Kriminalromans eine im Moment undenkbare Funktion.

Zweites Beispiel: Leonardo Padura aus Kuba. Dessen »Jahreszeiten«-Tetralogie sind die ersten genuin kubanischen Kriminalromane der Castro-Zeit. Natürlich gab es auch vor Padura Krimis und Spionage-Romane (um diesen Einwand gleich zu beantworten), aber keine, in dem auch die Täter Kubaner waren und die gesellschaftlichen Strukturen auf Kuba selbst als tentativ kriminalitätsgenerierend bwz. blank kriminell dargestellt wurden. Auch Padura liefert keine »Krimis«, aber gewichtige, ästhetisch komplexe Kriminalromane, die höchstens das kommunikative Potential des Genres nutzen, um Paduras Intentionen zu verstärken. Zudem nutzt Padura sehr intelligent die angeblich inferiore Position von »Genre« (auf dem bourdieuschen »literarischen Feld«), um gerade dort sowohl ästhetische wie inhaltliche Positionen zu beziehen - unter den Augen der kulturpolitischen Restriktionen, denn Padura lebt weiterhin auf Kuba, ohne substantielle Kompromisse oder Konzessionen zu machen.

Der grosse Erfolg, den Padura in ganz Europa als Vertreter der kubanischen Literatur hat, läßt sich eher auf die ästhetische, denn auf die politische Dimensionen seiner Romane gründen, die auch ohne allzu genaue Kenntnis der politischen Situation auf Kuba international tragfähig zu sein scheinen. Auch hier hat Kriminalliteratur ein Stadium der künstlerischen Emanzipation erreicht, die ihr aus komplizierten Gründen in Europa und den USA abhanden zu kommen droht.

So unterschiedlich die beiden Autoren Franco und Padura auch sein mögen - sie teilen mit allen metro-Autoren und mit allen lateinamerikanischen metro-Autoren schon gar, die Abwesenheit von, nennen wirs mal, Folklore. Das grossstädtische Brasilien von Rubem Fonseca, das grimmig-atavistische mexikanische Flachland bei Guillermo Arriaga, das völlig unschicke Kolumbien bei Gamboa - all das lässt keine klischeegesteuerten Zugriffe zu. Selbst bei Kuba nicht, obwohl Kuba ja für sich ein "Thema" zu sein scheint. Aber die Gründe dafür sind ja auch diffus - politnostalgisch, antiamerikanisch, touristisch, hormonell, buena-vista-social-club-folkloristisch - all das finden Sie bei Padura genauso wenig wie ein Boomerang bei meinem australischen Autor Garry Disher.

Sie sehen bis hierher also: Progammatischen Pointillismus muss ich pflegen, bei maximal vier oder fünf Programmplätzen im Jahr für lateinamerikanische Autoren (denn metro und der Unionsverlag sind nach wievor global ausgerichtet) - und programmatischer Pointillismus leitet auch die Akquise-Kriterien.

Die nun gründen weniger in dem Ehrgeiz, einen ganzen Kontinent von Tijuana bis Feuerland abzudecken (was, wie ich glaube, keiner weiteren Erklärungen bedarf), sie lassen sich auch nicht beschreiben über das Nachzeichnen gewisser Binnenrezeptionen: Dass der Argentinier Pablo de Santis zum Beispiel in einem prekär dialogischen Verhältnis zu Jorge Luis Borges steht (aber wer tut das nicht, in Argentinien?) ist für mich bedeutend weniger interessant oder gar ausschlaggebend als die Tatsache, dass er die brillante Erzählökonomie, die Freude an der hochartifiziellen Verrätselung von Handlungselementen aus der grossen argentinischen Comic-Tradition (Stichwort: Alberto Breccia und die Folgen) in ironiesprühende, anscheinend federleichte, aber mit Bedeutungsfallen und -tricks gespickte Romane transponiert hat - ohne dass dies, wie es bei der Borges-Rezeption etwa der Fall wäre, einer Wahrnehmungssteuerung gleichkäme. Dieser stille Subtext spielt textkonstitutiv eine wichtige,aber rezeptionstheoretisch oder platter gesagt: in der Breitenrezeption überhaupt keine Rolle.

Das heisst: Ich bemühe mich, meine Autoren und Bücher (aber eher Autoren, die wegen der offenen Struktur des Unionsverlags nicht mit allen ihren Bücher bei metro platziert werden müssen, sondern auch ins allgemeine Unionsverlags-Programm passen können) nach Maßgaben der inviduellen Qualitäten abseits der üblichen Rezeptionsmechanismen zu finden. Und sei`s zugegebenermassen mit Zufallsfaktor: Als z.B. von der Oscar-Nominierung eines gewissen Guillermo Arriaga (für »Amores perros«) noch nichts zu hören und zu lesen war, fiel mir ein kleines, schäbiges mexikanischen Taschenbuch in die Hände, das in einem hochoffiziellen Buchpaket voller feuilletonnotorischer Autoren lag - als Stopfmaterial in die Ecke geknautscht.

Tja, das Kontingenzproblem entzieht sich sowieso der Systematisierung...

Ein zweites, sicher nicht-linguistisch bedingtes Kriterium, ist die Rolle, die meiner Meinung nach, ein Autor für die Entwicklung der internationalen Literatur, gerne der Kriminalliteratur spielt. Sie alle kennen sicher die These von Ilan Staváns, dass der lateinamerikanische Kriminalroman unüberwindlich am Rewriting-Syndrom leide - d.h. er adaptiere nur klassische europäische resp.US-amerikanische Muster, baue sie für die jeweiligen nationalen Bedingungen um, und habe daher keine Luft für eine eigene Ästhetik und Poetik. Das ist mir zu grob und pauschal - masochistisch und ungerecht ist es allzumal. Und theoretisch zu naiv - denn Kriminalliteratur lässt sich schon lange nicht mehr nur über eine Paraphrase der Handlungsebene beschreiben - versuchen Sie das mal spasseshalber z.B. bei Borges` Isidro Parodi-Geschichten. Selbst über eine etwa verbindliche meaning of structure lassen sich keine tragfähigen Aussagen über Kriminalromane mehr machen. Kriminalliteratur kann heutzutage - tentativ und historisch subversiv - für praktisch jede ideologische Intention eingespannt werden. Also können nur ihre ästhetischen Möglichkeiten ernsthaft ein Kriterium sein, an denen sich ihre Stellung im Spannungsfeld zwischen Gegenaufklärung und Aufklärung festmachen lässt.

Das unterscheidet dann lateinamerikanische Kriminalliteratur nicht von der aus Asien, Australien oder Afrika. Und genau an diesem Punkt setzen meine Akquise-Bemühungen ein, hier entzündet sich meine Leidenschaft als literarisches Trüffelschwein.

Aber lassen Sie uns am Ende ganz tief auf den ganz realistischen Boden zurückkehren. Das Verlegen von Bücher ist kein Akt, der sich von der reinen Lehre leiten lassen kann, aber wem ich sage ich das?

Ein strategischer Vorteil von Spannungsliteratur oder Kriminalliteratur ist ihre Herkunft aus den niederen Gegenständen, an denen wir uns laut Schiller schon immer vergnügt haben. Wie richtig oder falsch diese Soziologisierung sein mag - sie hat den Vorteil, dass Kriminalliteratur nicht a priori mit allerlei Schwellenängste von Hoher Literatur behaftet ist. Ob sie dann selbst letzten Endes hohe oder nicht so hohe Literatur ist (oder die, die diese keineswegs naturgesetztliche Dichothomie ausser Kraft setzt), ist egal - sie sie tritt ohne Zweifel mit einem starken demokratischen Aplomb auf. Das befeuert zunächst einmal die Produktion, aber auch die breite Wahrnehmung. Ein Kriminalroman wird leichter wahrgenommen und auch tatsächlich eher gelesen als ein von vornherein auf »schwere« Kunst setzendes Buch - und zwar ganz egal, wie der Text dann gemacht ist. Lateinamerikanische Kriminalromane, so wie ich sie gerne bei metro sehe, erfüllen alle oben genannten und angesprochenen ästhetischen Kriterien, die samt und sonders nicht trivialliterarisch sind. Das Etikett metro definiert sie - und eine ganze Menge lateinamerikanischer Autoren (leider habe ich noch keine Autorin, aber das sollte sich ändern!) sind genau deswegen metro-Autoren (oder metro-abel; leider hab ich ja auch nicht alle, die zu metro passen würden ...), weil sie diesen demokratischen Aplomb mit artistischer Qualität und gar Realitätstüchtigkeit vereinen.

Natürlich wohnt diesem grossen kommunikativen Potential auch ein sehr unbehagliches dialektisches Moment inne: Die Globalisierung der Verlage als profitorientierte Grossunternehmen macht natürlich auch vor Lateinamerika nicht halt. Die Beliebigkeit, die auf reinen Konsum designten literaturidentischen Produkte, die die angelsächsischen Märkte überschwemmen und die zunehmend auch für das deutsche Publikum - weil billiger - von deutschen Autoren nachgebaut werden - all das wird auch auf die lateinamerikanische Produktion durchschlagen. Ich glaube mit grossem Missvergnügen zu spüren, dass diese Produktionskrise auch in Lateinamerika schon begonnen hat.

Ich hoffe natürlich, dass ich mich furchtbar irre, und der Kontinent weiterhin innovative, originelle Autoren und -innen hervorbringen wird. Angesichts seiner ganz realen Krisen wird das, so grausam ironisch das klingt, vermutlich der Fall sein.

Bis dahin aber gilt, und jetzt muss ich doch feststellen, dass man mit Wolfgang Iser zwar vieles, aber nicht alles verstehen kann: Der Unionsverlag oder metro haben kein Lateinamerika-Programm, sind aber das ideale Gefäss für lateinamerikanische Literatur.

 

© Thomas Wörtche, 2004 / 2005
(Ein Vortrag, gehalten im Juli 2004 auf einer Tagung zur lateinamerikanischen Literatur im Iberoromanischen Institut

 

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