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Von der harmlosen Rätselform Krimi zur vielfältigen Kriminalliteratur

Von Thomas Wörtche

 

Sehr geehrte Damen und Heren, liebe Gäste, verehrte Mitwirkende,
bei einer Veranstaltung über Kriminalliteratur im Brecht-Haus liegt es nahe, mit einem schnuckeligen Zitat des Genius Loci zu beginnen. Daraus wird aber nichts, weil ich sonst mit einer literarhistorischen Vorlesung über "den Kriminalroman im Wandel der Zeiten" aufwarten müßte, denn nur in so einem Zusammenhang ist mit Brechts sehr zeitgebundenem und natürlich freudig begrüßten Loblied des Kriminalromans etwas anzufangen.

Es geht aber hier und an den folgenden Tagen unserer kleinen Konferenz vielmehr um den Status Quo der Kriminalliteratur oder in Ermangelung eines besseren deutschen Wortes: um den Status Quo der Crime Fiction. Denn die manifestiert sich nicht nur im wohldefinierten Kriminalroman oder im "Grimmi", sondern in allen möglichen künstlerischen Formen: Im Comic, im Film, im Hörspiel, selbst in musikalischer Verwandlungen.

Und weil Crime Fiction das behandelt, was sie, wie schon der Name sagt, behandelt, ist ihr Status Quo ohne den Status Quo der Realität nicht zu denken. Und vielleicht darf man sogar den Umkehrschluß vorsichtig andenken: Ist der Status Quo der Realität ohne die Entwicklung der Crime Fiction zu denken?

 

Es ist eine beliebte Übung, Literatur und Kunst jeder Couleur nach Schlagworten zu sortieren. Das macht man meistens dann, wenn man griffige Verkaufsargumente sucht und das pp Publikum nicht überfordern will. Besonders bei der Kriminalliteratur, von der man anscheinend nicht so genau weiß, was sie denn eigentlich ist, greift man flugs zu Schubladen: Frauen-Krimi, Regionalkrimi, Sozio-Krimi, Berlin-Krimi, Szene-Krimi, Öko-Thriller, Häkel- oder gar Allergiker-Krimi. Also hat Chandler Regionalkrimis über Los Angeles geschrieben, Jerome Charyn Sozio-Krimis über die offene oder geschlossene Gesellschaft der New Yorker Mafia, Robert Campbell Szene-Krimis über die Pornoszene in Hollywood und ad absurdum fort.

Nun ist Verlagen und Autoren jeglichen Geschlechts nicht vorzuwerfen, daß sie zu Werbemitteln greifen, denn gegenüber der sogenannten seriösen Literatur zeichnet sich Kriminalliteratur (zumindest hierzulande) durch einen entscheidenden Punkt aus: Sie ist nicht-subventionierte Literatur. Wer Kriminalliteratur verfaßt, kann sich nicht von den Dschungelgewächsen aus Stipendien, Literaturpreisen, Druckkostenzuschüssen und anderer Formen geldwerter Vorteilnahme nähren - er oder sie müssen schon zusehen, wie sie was ihrem Publikum anbieten, damit das ihnen Geld zu geben bereit ist. Die negative Seite dabei ist, daß sich viele VerfasserInnen von Kriminalliteratur flüchten müssen: In's Fernsehgeschäft, das bekanntlich die Prosa versaut, wenn man nicht teuflisch aufpaßt, oder in aberwitzige Produktionsrhythmen, die Qualität nicht unbedingt befördern.

Ich neige aber eher dazu, die positiven Möglichkeiten dieser Situation zu sehen: Weil Kriminalliteratur frei von den Mechanismen des Kulturbetriebs sein kann, d.h. nicht fürs Feuilleton, sondern direkt für die Leser schreiben, sich aus den Machinationen des Betriebs mitsamt ihrem Gewirr aus Nepotismus, Rücksichtnahmen, Korruption und publikumsfernen Gezänk heraushalten kann, ist sie zumindest potentiell in der Lage, sich by doing ästhetische Potentiale zu erschließen, die sie direkt für Leser interessant macht - ohne die Umwege der schicken Art. Mit anderen Worten: Kriminalliteratur wird durch harte ökonomische Realitäten immer wieder daran erinnert, daß Literatur ein Medium der Kommunikation ist. Dafür darf sie ruhig dankbar sein und prinzipiell funktioniert es sogar: Kriminalliteratur wird weltweit wie rasend gelesen - von Menschen jeglicher Soziologie, jeglichen Geschlechts, jeglicher Hautfarbe & jeglichen Alters.

Richtig ist, daß auch alle Arten von Mist, Schmutz & Schund, Schrott & Schotter gerne gelesen werden. Und richtig ist auch, daß es grandiose Literatur gibt, die, wie man's auch dreht und wendet, ein Minderheitenprogramm bleiben muß. Nur Umkehrschlüsse sind nicht erlaubt. Es gilt weiterhin, wie schon immer: Was keine Leser hat, ist nicht a priori wertvoll; was viele Leser hat, kann auch Schamott sein.

Wenn wir also alle zusammen eine Zustandsbeschreibung der Kriminalliteratur hier und heute versuchen wollen, sollte am Anfang eine Evidenz stehen: 80% der Produktion ist Schrott & Schotter, 10% Konfektion, 10% Literatur. Genauso evident ist somit, daß Kriminalliteratur eine ganz stinknormale Kunstform ist, denn dieses Verhältnis gilt für alle Kunstproduktionen - wobei ich bei den Prozentzahlen noch in Gefahr gerate, als blauäugiger Schwarmgeist zu gelten.

Noch eine Evidenz: Kein Mensch kann 1995 mit Gründen genau sagen, was ein Kriminalroman ist und was nicht. Zumindest ich kann es nicht - zumal es für jedes Beispiel garantiert ein Gegenbeispiel gibt. Zwar ist da, wo Krimi draufsteht, auch meistens Krimi drin, aber noch lange nicht Kriminalliteratur. Und wo nicht Kriminalliteratur draufsteht, ist erstaunlich oft welche drin. Das nur als Faustregel, die durch jede Art von Ausnahme bestätigt wird.

 

Spätestens jetzt werden Sie, liebes Publikum, gemerkt haben, daß ich zwischen "Krimi" und "Kriminalliteratur" gerne einen Unterschied machen möchte, zumindest idealtypisch.

"Krimis" sind einmal liebe, sympathische Dinger, die man wegknabbert wie Chips und bei denen man sich, wenn sie gekonnt gemacht sind, nicht unter Niveau unterhält. Sie sind legitim, weil sie real existierende Bedürfnislagen von Menschen mehr oder weniger intelligent befriedigen, sympathisch, wenn ihre ideologische Basis ein gewisser common sense des "anständigen Menschen" bildet, sie sich also nicht mit der finstersten Reaktion gemein machen - mit anderen Worten, sie sind die modernen Äquivalente der Gartenlauben-Romane, der Courts-Mahler, Marlitt, Karl May.

In diese Kategorie gehören diverse Bestseller wie Minette Walters und die anderen, die diversen us-amerikanischen Überreste der Privatdetektivromane und meinethalben auch die zeitgeistigen Anwalts- und Gerichtsschmöker von Turow bis Grisham. Mehr ist von ihnen wirklich nicht zu erwarten, zusammengenommen ergeben sie höchstens einen Katalog der Dispositionen ihrer jeweiligen Gesellschaften - durch Thematisierung, bzw. auffällige Nicht-Thematisierung: Bei Minette Walters oder P.D. James ist zum Beispiel Großbritannien vorwiegend weiß, mittelständisch, limitiert gewalttätig und cultivated. Für Soziologen eine Fundgrube, welche Probleme die Briten also wirklich haben. Und für treue Leser und -Innen herrlich evasive Literatur. Oder welche zum Identifizieren. Oder welche, die dann doch - vorausgesetzt man hat eines - unter Niveau liegt. Aber auch das ist legitim und keineswegs verächtlich abzutun. Ich mag solche Krimis - hin und wieder.

"Krimis" möchte ich auch die vielen, vielen Bücher und buchidentischen Druckwerke nennen, deren vornehmlichste Idee ist, Thesen, Wahrheiten oder Weltanschauungen zu transportieren. Der Krimi bietet dafür den idealen Transportriemen, weil ein Verbrechen in dieser didaktischen Sicht der Dinge stets auf einen einzelnen wunden Punkt hinweist. Und jetzt kann dieser wunde Punkt erklärt werden und das Antidot verordnet. In diese Kategorie gehört, wer hätte es gedacht, der "Frauenkrimi" - wo Frauen die besseren Menschen, die besseren Psychologen, die besseren was weiß ich sind, die Steigerungsform ist der Lesben/Schwulen/Sozio-Krimi, die vereinigende Klammer all dieser Modelle der "Krimi der Gewißheiten": Gewiß wäre die Welt besser, wenn es bestimmte gesellschaftliche Gruppen überhaupt nicht gäbe, aber andere das Vorbild für alle wären. Gewiß kann man die Bösen gruppenweise wie im multiple choice Test auflisten und je nach Standpunkt ankreuzen: Wessis, Stasis, Männer, Industrielle, Banken, Polizei, Mafia etc. etc. Gewiß werden deren finstere Ränke aufgeklärt - sie sind anscheinend bis ins letzte Eckchen analysierbar, weil anscheinend einem finstern Masterplan folgend - am Ende steht zumindest die Erkenntnis: So mies ist die Welt - und das ist mal gewiß.

"Krimis" sind drittens die meisten der Werke, die irgendwie historisierend verfahren: also im alten Rom spielen, in der Renaissance, im viktorianischen England usw. usw. Weil Umberto Eco auf diesem Zug (er war ja bei weitem nicht der erste) einen Megaseller gelandet hat, wimmelt es von TrittbrettfahrerInnen, die günstigenfalls nette Gags zu erzielen wissen und das geneigte Publikum mit gelungenen Anspielungsenträtselungen und Entschlüsselungsleistungen belohnen, wie zum Beispiel M.J. Trow mit seinen Lestrade-Romanen - das geht so lange gut, wie die Masche noch nicht abgenudelt ist, dann stellt sich Langeweile ein. Viertens sind "Krimis" auch hin und wieder eine Landplage und haben gerade in Deutschland gewaltige Flurschäden ausgelöst - dann, wenn sie im Fernsehen kommen und zum Beispiel von Herrn Reinecker stammen, der gerade von der Zunftorganisation der deutschen KrimiverfasserInnen dafür mit einem Preis belohnt worden ist. Daß der Mann Nazi-Propagandist war, das nur nebenbei, es paßt ins Bild der Zeit. Aber der wirkliche Hohn ist, daß ein Mann auch noch von seinen im Notfall unter seinem Wirken leidenden Standeskollegen und -Innen ausgezeichnet wird, dafür daß er seit Jahrzehnten die Nation über die Phänomene Kriminalität, Verbrechen, Gewalt, Polizeiarbeit und Menschenbild mit Filmchen traktiert, die anscheinend in einer Parallelwelt spielen, aber so tun, als ob diese Parallelwelt irgendwie im Einklang mit der richtigen Welt steht. Hunderschaften von Schreibern jeglichen Geschlechts haben von Reinecker & Co. (er ist ja nicht allein der Schurke) gerne und eifrig gelernt, daß Krimis auch dann 'gehen', wenn man sich um nichts schert, was irgendwie mit der realen Welt zu tun hat. Und wenn man den Markt damit dominiert. Der Transfer dieses Prinzips auf den Buchmarkt hat erstaunlich gut geklappt; erstaunlich deshalb, weil auch trübe Verkaufszahlen keinen Einhalt erzwingen. Man kann anscheinend ohne Grundkenntnisse (und ich meine ganz, ganz schlichte Grundkenntnisse) von wahrscheinlichen Verhältnissen, von basalen Fakten (wie, z.B. funktioniert ansatzweise die Polizei), von schlichtem Menschenverstand jede noch so krause Geschichte abliefern. Es wird schon gutgehen. Ich bin fest davon überzeugt, daß der problematische Zustand der deutschen Kriminalliteratur mit diesem fatalen jahrzehntelangen fahrlässigen Dilettieren zu tun hat. So schafft man keine Traditionen, keinen Unterboden, auf dem andere aufbauen könnten - so schafft man Beliebigkeiten, wenn ich's mal nett formulieren soll.

 

Nach dieser "Krimischelte" dürfen Sie, meine Damen und Herren, zurecht hoffen, daß ich jetzt andeute, was ich unter "Kriminalliteratur" verstehe.

Dazu zum letzten Mal "Krimi": - allen aufgezählten Typen ist nämlich gemeinsam, daß sie keine Texte sind, die ästhetisch irgendwie bemerkenswert geformt sind. Sie erzählen nach den Standards eines herabgesunkenen Realismus des 19. Jahrhunderts so vor sich hin. Von A nach B und wenn´s hoch kommt gleichzeitig auf zwei oder drei Zeit- oder Ortsebenen. Sprache spielt keine eigene Rolle, sie ist lediglich das Medium, in dem eine mehr oder weniger spannende Geschichte nun mal passiert.

Es ist also nur plausibel, KriminalLITERATUR da zu vermuten, wo auch ästhetisch etwas passiert, wo also die verwendeten literarischen Mittel zum "Sinn" oder der "Bedeutung" eines Romans wesentlich beitragen.

Und damit sind wir gleichzeitig zu einem Differenz-Kriterium im Vergleich zu "seriöser" Literatur gelangt: Anders als dort im Gefolge von Moderne und Postmoderne machen sich hier die literarischen Verfahren nicht selbstständig, dienen weder ausschließlich der Reflexion ihrer selbst noch der Reflexion des Autoren-Subjekts, sondern erzielen mit der möglichst kunstvoll ästhetisch geformten Erzählung einen Effekt, den man hochgestochen mit "Komplexionsaufladung" bezeichnen könnte.

Weniger bedrohlich gesagt: Kriminalliteratur verdoppelt nicht einfach Realitäten, indem sie versucht, sie möglichst einfach abzubilden (sowieso hoffnungslos), sondern Kriminalliteratur versucht, möglichst viele Dimensionen und Facetten von Realität zu artikulieren.

Wirklichkeit ist ja einerseits ein Ding, das unabhängig von medialer Bearbeitung existiert (wer das bezweifelt, dem empfehle ich einen echten Bauchschuß, und keinen virtuellen) - andererseits ein Ding, das auch nicht vollständig präformiert in der Gegend herumlungert und bloß darauf wartet, ab- und aufgeschrieben zu werden. Wer durch Berlin geht, hat, ob er will oder nicht, Bilder, Texte, Sounds, Vorstellungen über Berlin im Kopf, die das beeinflussen, was er oder sie wahrnimmt. Diese wahrnehmungsprägenden Komponenten sind, nicht zuletzt, von Literatur geformt (aber auch von anderen Kunstformen, weswegen wir uns auch mit anderen Kunstformen beschäftigen wollen). Das heißt auch: Wenn Kriminalliteratur sich mit Wirklichkeit beschäftigt, muß diese a) erkennbar sein und b) sich selbst vorausdenken oder neu denken oder etwas vermuten, erahnen, assoziieren oder sogar herbeihalluzinieren, denn sonst wären die Bilder von damals heute noch stabil. Sie sind aber im Fluß - und das haben sie nur teilweise den veränderten Fakten zu verdanken. P.D. James' England hat sich seit Old Lady Agatha nur im Dekor verändert, NYC ist nach Jerome Charyns Isaac Sidel-Romanen eine andere Stadt als bei Mickey Spillane. Und schon sehen auch wir es anders. Wo wir früher vielleicht kommunistische Wühlmäuse ausgemacht haben, stehen wir nach Charyn in Camelot und mitten in fremdem Stammesland.

Bei Mickey Spillane kann das "Verbrechen" bekämpft werden - in einfachen Sätzen; bei Jerome Charyn ist Isaac Sidel mittlerweile Oberbürgermeister von NYC und Mafioso und Mörder - inszeniert in einer eigenen Sprache, die Charyn für diese Erzählungen entworfen hat: fremd, eigen, kunstvoll - aber eng mit dem Erzählten verzahnt.

Die beiden Komponenten: Sprache und Wirklichkeit stehen in einem prekären Verhältnis: Die Sprache kann noch so kunstvoll sein, noch so raffiniert, ausgekocht und mit allen Wassern von Romantheorien gewaschen - wenn mit ihr etwas erzählt wird, was aus Gründen des Nicht-Genau Hinschauens, des Nicht-Wissens, des Falsch-Verstehen, des Nicht-Kennens von Sachverhalten, Topographien, Fakten etc. nicht funktioniert, dann zerplatzt die schöne Kunst wie eine Seifenblase, die bestenfalls noch hübsch schillert, normalerweise aber nur einen seifigen Nachgeschmack hinterläßt. Dann werden Texte plötzlich entsetzlich prätentiös, Beispiele auf Anfrage in Hülle und Fülle. (Green, Kerr, Grzimek).

Die Realitäten, könnte man sagen, verhindern das Abheben der Kriminalliteratur ins Beliebige. Woran man prompt das Argument anschließen könnte, das sei jetzt aber schade, weil dadurch der Kriminalliteratur die Freiheit, die Utopie oder was auch immer abhanden komme, sie sozusagen "gefesselte" Literatur bleiben müsse - also der uralte & grundsätzliche Trivialitätsverdacht durchaus zurecht bestehe.

Dagegen gibt es einen Einwand: Keine Literatur, auch die avancierteste nicht, ist von dieser Fessel frei - gesetzt sie vermeidet "Realitäten", sind diese dennoch ex negativo vorhanden, weil sie wissen muß, welche Realitäten sie vermeiden will; gesetzt, sie baut rein literarische Gegenwelten auf, dann muß sie wissen, welche Züge der einen Welt sie in der anderen vermeiden will - und schließlich ist jede literarische Äußerung, wenn sie von mehr Menschen als dem produzierenden Subjekt selbst verstanden werden will, an die Materialität der Sprache, an die Kommunikabilität von Sprache gefesselt, die bekanntlich auch nicht kontextfrei sind.

Also zeichnet Kriminalliteratur vor anderer Literatur höchstens ein bestimmter Umgang mit Realitäten aus. Und der hat nicht mit ihren einzelnen Themenbereichen zu tun, sondern mit ihrem Generalthema: Gewalt und Verbrechen.

Seit Kain und Abels Zeiten, länger noch, seit Homo erectus auf diesem Planeten sein Unwesen treibt, sind Gewalt und Verbrechen konstitutive Elemente aller Zusammenballungen von Menschen. Und immer mit der Hoffnung kombiniert, der Mensch ließe sich bessern. Es gab schon immer Literatur, die den einzelnen Mord als Skandalon betrachtet hat; die meinte, das Verbrechen moralisch, psychologisch, pädagogisch oder gar geschichtsphilosophisch herauszupräparieren, dann verschwinden lassen zu können. Man hat sogar versucht, es total in die Bereiche des Rationalen zu bannen - indem man den Kriminalroman erfunden hat: Zunächst als Denksportaufgabe, dann als Nervenkitzel, dann als soziologisches Analyseinstrumentarium - und das Verbrechen der Aufklärung zu übergeben. Zumindest der potentiellen Aufklärbarkeit. Man wies dem Verbrechen Bezirke in den Gesellschaften zu (das Verbrechermilieu, die Mafia, die Psyche), wo man es eingekastelt zu haben glaubte. Und damit für bekämpfbar hielt.

Für die Kriminalliteratur war diese vergebliche Liebesmüh zunächst hochproduktiv: Sie entwickelte literarische Spielformen. Sie koppelte sich vom mainstream ab, sie entwickelte sogar Prototypen, die in die Realität zurückwirken konnten (so hat z.B. die us-amerikanische Cosa Nostra ganze Sets von Verhaltensweisen aus Mario Puzos Paten übernommen, und seit es Miami Vice gab, tragen auch liebe Freunde von der hiesigen Polizei ganz andere Sakkos). Diese Spielformen, die vom klassischen Whodunit (Lady Agatha & die Folgen) über den klasssischen Private-Eye (die Dreifaltigkeit Hammett/Chandler/Macdonald) zur klassischen Cop-Novel (Ed McBain & die Folgen) reichen, haben ein ziemlich zähes Eigenleben entwickelt und wirken immer noch nach. Und zwar massiv - obwohl doch spätestens in den 50er Jahren ihr Stündlein geschlagen hatte. Daß es dennoch auch heute noch immer wieder Meisterwerke dieser Muster gibt, hat schlicht mit der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu tun - und damit, daß normative Ästhetiken, also Dogmen und Vorschriften sowieso nicht funktionieren. Und mich insofern auch nicht interessieren.

Aber die Musik spielt längst wo anders: Das liegt an den Paradigmenwechslern und Innen, die die Kriminalliteratur endgültig aus den Korsetts der festen Formen herausgeholt und den "Realitäten" angepaßt haben: An George Simenon und seinen Romans durs, an den Autoren der Serié noir (also Goodis, Thompson, Woolrich), an Patricia Highsmith und ihrer Literatur des bösen Blicks und schließlich und besonders entscheidend an Chester Himes und seinen grotesk-komischen Romanen aus Harlem.

Allerspätestens ab da gibt es keine Raster mehr, mit denen man Kriminalliteratur definieren könnte. Das Verbrechen ist in der Literatur da angekommen, wo es in Wirklichkeit schon lange ist: Mitten drin, mitten in allen Gesellschaften, nicht mehr als Skandalon, als Einzelfall oder als Sensation, sondern als konstitutives Element, alltäglich und überall. Als ob es nach Auschwitz, also nachdem ein ganzes Volk anscheinend problemlos organisiertes Verbrechen vom Effektivsten betrieben hat, noch eines weiteren Beweises dafür bedürfe. Nun will ich hier kein neu-adornitisches Argument einbringen, dem zufolge nach Auschwitz kein Kriminalroman mehr möglich ist. Aber daß die veränderten Realitäten, bzw. ein verändertes Bewußtsein von Realitäten direkt etwas mit der Qualität von Kriminalliteratur zu tun haben, scheint mir evident. Denn da, wo das Verbrechen nicht isolierbar, eingrenzbar, einschachtelbar, sondern ubiquitär gedacht wird, hat es für die Literatur, die sich mit ihm beschäftigt, deutliche Folgen: Das Pathos der Aufklärung funktioniert nicht mehr. Und wo kein Pathos mehr ist, ist Platz für Witz und Komik. Beides Techniken, die nebenbei bemerkt, für eine eventuell subversive Funktion von Kriminalliteratur brauchbarer sind als einsame, mit der Gesellschaft in Dissens lebende Figuren allerlei Geschlechts. Wo Witz und Komik obwalten, zerbröseln Gewißheiten, wo Gewißheiten zerbröselt sind, kann es auch keine monokausalen Perspektiven auf die Welt geben, und wo die Zentralperspektive fehlt, mischen sich immer mehr Stimmen, immer mehr Kontexte in die Romane ein. Und damit wächst der Formenreichtum der Kriminalliteratur immens. Nebenbei bemerkt hat ausgerechnet die Cop-Novel, der Polizeiroman, also das Subgenre, wo viele Perspektiven qua definitionem zusammen- oder gegeneinanderwirken, die entscheidenden Schübe in dieser Richtung gegeben, wiewohl natürlich nicht ausschließlich.

Es ist keine Germanophobie, wenn ich diese Entwicklung anderen-orts festmache: In Spanien bei Andreu Martín und David C. Hall, in Mexiko bei Paco Ignacio Taibo, in Argentinien bei Juan Sasturaín. in England bei Robin Cook alias Derek Raymond, Liza Cody, Julian Rathbone, Helen Zahavi, in den USA bei Jerry Oster, Jerome Charyn, Richard Hoyt, Carl Hiaasen (und natürlich die "Gründerväter" Ross Thomas oder Joseph Wambaugh nicht zu vergessen), in den Niederlanden bei Janwillem van de Wetering, in Frankreich bei Jean-Patrick Manchette (Ý), Jean Vautrin, Pierre Siniac (& der gesamten Bewegung des Néo-Polar) - all diese und etliche dutzend andere Autoren mehr haben die "Literarisierung" der Kriminalliteratur soweit vorangetrieben, daß sie den Vergleich selbst von den snobistischesten Positionen der "seriösen" Literatur aus nicht zu scheuen braucht.

 

Ich vermute, daß es die allen Genannten gemeinsame Einschätzung der Wirklichkeit ist, die ihre Ästhetik vorankatapultiert hat. Kein einziger von ihnen hat eine "gradlinige" Biographie - es sind ehemalige Polizisten darunter, Leute, die auf der anderen Seite "des Gesetzes" gestanden haben (und nicht nur spielerisch), also alles Menschen, die außer Schule-Universität-Literaturbetrieb auch andere Segmente der Wirklichkeit intim kennen. Ich weiß natürlich auch, daß Authentizität von Erfahrungen noch lange keine gute Literatur garantiert - es wimmelt von bestürzend schlechtend Büchern von Menschen mit prallvoller, spannender Biographie.

Aber dennoch drängt sich der Verdacht auf, daß Perspektiven und Zugriffe auf Wirklichkeit, die von Menschen inszeniert werden, die Wirklichkeiten "kennen" oder zumindest ein Sensorium dafür haben, daß man sie kennenlernen sollte, bevor man darüber öffentlich schreibt, sich positiv spürbar in den Texten niederschlagen. Die besten Kriminalromane sind nach all dem bisher gesagten, vermutlich die, die auf der Basis einer penibel genauen Wirklichkeitsbeobachtung die Realität poetisch zum Leuchten bringen.

Dabei entziehen sich die Mittel, wie das man das erreichen kann, wiederum jeglicher Katalogisierung oder gar normativen Definition. Man kann wiederum nur versuchen, ein paar Beobachtungen zu sammeln: Einem alten Satz zufolge ist life stranger than fiction - an Ungeheuerlichkeiten im Alltag haben wir uns weidlich gewöhnt. Der Giftanschlag auf die Tokioter U-Bahn hat nach dem Roman Opernball von Joseph Haslinger niemand mehr erstaunt; aber wenn bei Jerry Oster der Oberbürgermeister von New York eigenhändig Obdachlose nächtens im Park abfackelt, Street-Cops bei Joseph Wambaugh mit Leichenteilen Polka tanzen, bei Chester Himes kopflose Motorradfahrer durch Harlem brettern, dann ist die Schraube dessen, was ist, nur um einen klitzekleinen Millimeter in Richtung dessen, was sein könnte, weitergedreht. Den klitzekleinen Millimeter in Richtung poetischen Wahnwitz, der aus Naturalismus Realismus macht, auch wenn der zunächst schierer Surrealismus zu sein scheint.

Um auch hier wieder Unterschiede nicht unterzupflügen: Einläßliche und exzessive Schilderungen von Gemetzel gehören nicht unbedingt in diese Kategorie. Vor allem dann nicht, als wenn sie so tun, als ob sie der Realität abgeschaut und nachgebaut sind. Ich meine damit die endgültig abgewickelte Mode der Serial-Killer-Romane, die nach dem gesamtgesellschaftlichen Prinzip der Überbietung verfahren ist: Wer hat das scheußlichste, zynischste, durchgeknallteste, widerwärtigeste Monster zu bieten ? Also das Beliebteste in Film und Fernsehen, sozusagen das knuddeligste Geisterbahntierchen. Die vier oder fünf Serial-Killer-Romane von Bedeutung, die es gibt (also die von Derek Raymond, Robert Littell, Andreu Martín, Thomas Harris) arbeiten durchweg mit Brechungen, die gar nicht erst den Eindruck entstehen lassen, Realismus sei schieres Protokollieren der Wirklichkeit. Schlechte und überflüssige Serial-Killer-Romane erkennt man daran, daß sie ausgerechnet in den Metzel-Szenen so tun, als ob sie die Realität nachbildeten, aber ansonsten alle Klischees und Topoi uralter Erzählmuster weidlich ausschlachten.

Das Weiterdrehen an der Schraube, um das es mir geht, hat also nicht mit dieser Überbietungsstrategie zu tun.

Sondern vielmehr mit dem Verdichten von Wirklichkeit. Als strukturierendes Element mögen dabei noch Reste von Fall und Aufklärung übrigbleiben, oft deutlich in parodistischer Absicht. Aber es dominiert entweder das Bewußtsein von einer unendlichen Kette (jeder Fall tritt tausend andere Fälle los) von Gewalt, oder aber es werden Fensterchen aufgestoßen auf Möglichkeiten, mit der konstitutiven Gewalt umzugehen. Hinter der Gewalt werden plötzlich Dimensionen sichtbar oder erahnbar oder herbeihalluziniert, die dann verschlossen bleiben, wenn man sich dem Chaos von modern life and times vordergründing in ordnender Absicht nähert. Das New York von Lawrence Block zum Beispiel, wo die Dinge ganz und gar nicht so sind, wie man glaubt, daß sie zu sein haben, eröffnet plötzlich neue Sortierungen von Sozialität, von Regeln des Zusammenlebens (wobei es sich meist um Überleben handelt) abseits bekannter Parameter, oder haben Sie einen wirklich guten Freund, der abgehackte Köpfe mit sich herumträgt ? Bei Thomas Adcock tun sich nicht nur im geographischen Sinn neue Welten auf, wenn man underground geht, wo plötzlich wieder und wider Erwarten politische Macht versammelt ist. Unterirdisch, unsichtbar, aber massiv präsent.

Nur zwei vereinzelte Beispiele für die Macht und die Möglichkeiten des Fiktiven, wenn es nur mit dem real Existierenden unentwirrbar genug verzahnt ist und dazu noch ein leises, skeptisches, aber durchaus bewußtes und gewolltes Nachwehen der gar nicht so dummen Forderung formuliert, daß Literatur zumindest utopische Aspekte haben möge. Denn wo sonst sollten die noch formuliert werden können?

 

Ich gebe zu, ich will Ihnen Kriminalliteratur schmackhaft machen. Es ist nicht zuletzt ein entscheidendes Kriterium von Literatur überhaupt, auf ästhetischem Weg Fremderfahrung zu vermitteln, präziser: die Ahnung, daß es Fremdes gibt und daß dieses Fremde spannend sein kann. Die Schründe und Abgründe unserer Seelen sind nun wirklich hinreichend erforscht, die Schründe und Abgründe der Wirklichkeit noch lange nicht. Vielleicht ist das so, weil sie so schrundig und abgrundig gar nicht sind und mitten im alltäglich Gewohnten siedeln. Es braucht auf der einen Seite nicht mehr verbrechische Milieus (weil tentativ jedes Milieu verbrecherisch ist), auf der anderen Seite auch nicht nur die menschliche Seele als ontologisch-finsteres Loch. Das wäre schon viel zu nahe dran an Erklärungsmustern. Und die gibt es nicht. Das heißt: Sie alle zielen zu kurz, sie alle illustrieren nur einfache Weltbilder. Sind Frauen wirklich nur deshalb Gewalt in besonderem Masse ausgesetzt, weil Männer besonders gewalttätig sind ? Sind Kinder a priori nur unschuldige Opfer ? Ist wirklich der Vietnam-Krieg an der Brutalisierung der us-amerikanischen Gesellschaft schuld ? Wirkt das Verbrechen wirklich von den Randbezirken in die Kernbereiche aller Gesellschaften ? Wer solche und ähnliche Fragen schon vor dem Prozeß des Schreibens entschieden hat und nur noch seine Überzeugung in Fiktion umgießt, der wird vermutlich schlechte Romane schreiben. Weil er oder sie das Potential von Kriminalromanen ungenutzt läßt, Experimentierfeld solcher Debatten zu sein. Und zwar auf Grund ihrer besonderen ästhetischen Organisation, nicht primär auf Grund ihrer einfachen Geschichten. Denn tradierte, formalisierte literarische Muster taugen nicht, neue Gegenheiten brav und bieder so wie die alten abzubilden.

 

Bleibt die Frage, ob man den armen Kriminalroman mit solchen Problemen nicht gnadenlos überfordert. Wo er doch auch und mit vollem Recht unterhalten will, amüsieren, entspannen und erfreuen. Und da soll er ganze Erkenntnistheorien auf seinen Schultern tragen ? Ist nicht gerade er die Literatur, die solche schwerwiegenden und schweißtreibenden Probleme aus dem Philosophie- und Germanistikseminar meiden soll wie der Teufel das Weihwasser um nicht, wie seine seriöse Verwandschaft in die Hände schwerblütiger Deuter und Exegeten zu fallen, die dem pp Publikum dann für Geld erklären, wie er funktioniert?

Sie dürfen es mir gerne als Gipfel der Chuzpe oder als krampfhafter Nachweis der Wichtigkeit meiner eigenen Existenz ankreiden, wenn ich behaupte, Kriminalliteratur macht Spaß, gerade weil sie das alles kann. Natürlich, ich denke gern, also auch über Kriminalliteratur nach. Genau so gerne aber lasse ich mir spannende Dinge erzählen. Ich dialogisiere gerne (im Geiste oder live, denn der Vorbereitung vieler Live-Gespräche mit Kriminalautoren jeglichen Geschlechts aus aller Welt dient unsere Veranstaltung nebenbei auch) mit Menschen, die ihrem Publikum etwas zu sagen haben. Keine Dogmen, keine Gewißheiten, sondern Geschichten, mehr Geschichten und noch mehr Geschichten. Das ist kein Aufruf zum naiven Erzählen, sondern der Spaß an der Freud kommt daher, wie erfindungsreich, wie lustvoll, wie liebevoll Erzählwerke aus den paar Dutzend Standardkonstellationen der gesamten Literatur (Mann liebt Frau, Frau haßt Mann) ganze Welten entwerfen, Realitäten herbeischreiben, gegen miese Realitäten anschreiben können - ohne in der vordergründigen Verdacht zu geraten, es handle sich ja "nur" um Literatur. Und "Nur"-Literatur muß man ja außerhalb literarischer Zirkel nicht ernst nehmen.

Das ist, glaube ich, ein entscheidender Zug von Kriminalliteratur: Sie greift nicht blöde, öde, platt, nämlich 1:1 hinein ins pralle Leben (das ist meistens der Ausgangspunkt von Kolportage), sondern sie ist literarisch, weil sie anders das nicht formulieren kann, was sie zu sagen hat. Sie hat aber stets auch ein verbindliches Standbein in der realen Realität. Beide Komponenten kontrollieren sich gegenseitig, gerät die eine in Schieflage, dann rutscht die andere mit.

Das alles hört sich so an, als wolle ich Kriminalliteratur kategorisch von anderer Literatur abgrenzen, also eine subliteratura, wie Andreu Martín das mal genannt hat, etablieren. Also behaupten, es gäbe zwei Literaturen, deren Produzenten und Leser sich gegenseitig nichts zu sagen hätten. Ich glaube, das hieße den "Literatur-Betrieb" überschätzen. Die Kriminalliteratur kommt historisch gesehen auch aus der Gosse - und das ist gut so. Denn aus der Gosse kommen, heißt auch, den Boden unter den Füßen nicht verlieren, mit Menschen reden, sich austauschen, gerne auch klatschen & tratschen zu wollen.

Mit aus der Gosse gesammelten Alltagsmaterialien haben allerdings auch spätestens seit Majakowski die Sezessionisten aller Art ihren Kampf gegen verkrustete Formen von Literatur begonnen. Es ließe sich mit entsprechender Unvoreingenommenheit sogar die Literaturgeschichte neu sortieren: Der Weg der Großstadtliteratur führte dann seit E.T.A. Hoffmann eben direkt über R.L. Stevenson zu K.G. Chesterton und von da aus weiter bis zu Carol O'Connell oder Bob Leuci. Balzac, Dickens, Zola wären in solche Entwicklungslinien leicht zu integrieren - auch sie kommen, obwohl das damit nicht unmittelbar zu tun hat, aus den leicht anrüchigen Gefilden des Nichtsubventionierten, also des Populären Schreibens. Und so besteht auch heute gar kein Grund, Autoren wie Don DeLillo, Pavel Kohout, Orhan Pamuk oder Carlos Fuentes nicht wahrzunehmen, nur weil nicht "Kriminalroman" auf ihren Büchern draufsteht (aber lustigerweise schreiben PR-Abteilungen gerne "spannend wie ein Thriller, aber ..." drauf). Das Gezänk zwischen Hoher und Niederer Literatur lebt lediglich von gegenseitigen Borniertheiten - die einen ignorieren die anderen aggressiv, die anderen meinen im Ernst, Kriminalliteratur sei die wichtigste Literatur überhaupt. Mich langweilen solche Positionen.

Was ich hingegen hochspannend finde, ist das kommunikative Potential der Kriminalliteratur. Über Kriminalliteratur wird heutzutage eine Menge kommuniziert: Ihre Themenstellungen, ihre Blicke auf die Welt schlagen sich schon seit einiger Zeit nicht mehr nur in Literatur nieder. Der Film hat am frühesten begriffen, was man mit Kriminalliteratur alles anstellen kann - das Hörspiel hat sich der Kriminalliteratur bemächtigt, der Comic und auch die Musik. Kriminalliterarische Elemente sind eine Art universeller Code geworden, wobei über dessen Funktionalisierbarkeit noch gar nichts gesagt ist. Denn es bringt wenig, Kriminalliteratur grundsätzlich als Opposition zu gesellschaftlichen Zuständen - oder auch zu ästhetischen - definieren zu wollen. Kriminalliteratur kann auch finsterste Reaktion in allen möglichen Systemen und Ideologien transportieren. Der Kampf gegen das Böse ist eben nicht metaphysisch - sondern das Böse definiert sich auch aus seinen jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen. Entschuldigen Sie diesen Gemeinplatz, aber in Zeiten von allzu flinken Aussagen über ewige Werte scheint er mir an dieser Stelle angebracht.

Wenn denn Kriminalliteratur eine begrüßenswerte politische Dimension haben sollte, dann höchstens die, daß sie ihre Erzählkunst dazu nutzt, einfache Weltbilder an den scharfen Splittern der ausgefransten Realitäten zu zerreiben. Das hat dann mit "einfachem, naiven" Erzählen nichts mehr zu tun. Aber es ist tausendmal spannender als die ewige Reproduktion einfacher Weltbilder jeglicher Provenienz. Das Verbrechen erweist sich dabei als zentrales Thema, weil es schlicht und einfach zentral ist - und jeden Bereich menschlichen Zusammenlebens erreicht hat: von der heiligen Familie über Regierungen bis hin zur Staatengemeinschaft. Zynisch gesagt: Daß aus der harmlosen Rätselform Krimi eine blühende, vielfältige Kriminalliteratur hat werden können, verdanken wir dem betrüblichen Umstand, daß die kriminelle Verfaßtheit dieser Welt zunehmender, unübersehbarer und bohrender in unser Bewußtsein gerückt ist. Deswegen sind Kriminalromane, die in Barcelona spielen auch in Berlin verständlich, ungeachtet aller kostbaren regionalen Unterschiede, die zudem ein dankbar genommenes Surplus ergeben - genauso, wie die in Kenia angesiedelten jemandem in Tokio etwas sagen können. Und das liegt nicht etwa daran, daß kulturelle Unterschiede niedernivelliert sind, sondern daß Verbrechen weltweit ein derart konstitutiver Teil von Wirklchkeit ist, daß der literarische Umgang damit realiter beinahe alles zu kommunizieren vermag. Man darf sogar darüber spekulieren, ob Literatur, die sich erzählend mit Wirklichkeit auseinandersetzt, anderes sein kann, als Kriminalliteratur.

 

Mit unserem kleinen Doppelwochenenden-Kolloquium im Brecht-Haus, das mitten drin liegt in unserem Themenbereich - schauen Sie aus dem Fenster, denken Sie an die Friedrichstraße und denken Sie zwei Sekunden darüber nach, welche Implikationen die Investition von Milliarden von Dollares so haben könnten - möchten wir Ihnen keine fertigen Antworten auf Millionen möglicher Fragen anbieten. Sondern nur Fensterchen einen Spalt weit aufmachen und gemeinsam mit Ihnen, meine Damen und Herren, kucken, was wir aus den Bereichen Kunst und Leben für unsere Freude an vielfältiger und spannender Literatur abstauben können. Vielen Dank.

© Thomas Wörtche, 1995

 

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