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Verwerfungen in unserer Realität

Thomas Wörtche über Stephen King

 

Der Buick Manchmal schlägt Quantität in Qualitätslosigkeit um. Besonders in begrifflicher Hinsicht. Welche Verwüstungen hat der Begriff »Krimi« angerichtet oder der Kollege »Science Fiction«, die beide Texte beachtlicher Qualität und schauderhaften Schotter unter sich zwangsvereinigen und damit alles tot drücken, was sich im Einzelnen ganz anders ausnimmt. So ein Totschläger aus quantitativen Gründen ist auch der Terminus »Stephen-King-Buch«, woran allerdings der megaproduktive Urheber ganz und gar nicht unschuldig ist. Wie viele Romane, Kurzgeschichten, Filmszenarien und Essays Stephen King unter seinem richtigen Namen und als Richard Bachman und in Ko-Autorschaft mit Peter Straub seit seinem Erstling »Carrie« 1974 tatsächlich geschrieben hat, das möchten wir der einschlägigen und vielfältigen King-Philologie überlassen. Der Begriff »Stephen-King-Buch« ist zwar ideal für das Marketing mit Bestseller-Garantie, verdeckt aber nicht nur die völlig unterschiedlichen Genrezugehörigkeiten von Kings verschiedenen Werken - Horror, Fantasy, Science Fiction, Dorfgeschichte, Künstlernovelle, beziehungsweise -roman, Kriminalstory -, sondern camoufliert auch die enormen Qualitätsunterschiede. Zwischen einem Meisterwerk wie »Brennen muss Salem« und einem lustlosen Selbst-Zitat wie »Der Buick« liegen schriftstellerische Welten. Stephen King vereint, so kann man sagen, als eigenes Genre sui generis die ganze Dialektik von Genre-Literatur überhaupt in seiner Person. Diese Vielfalt macht ihn zu einem einzigartigen Phänomen in der literarischen Landschaft und unterscheidet ihn von seinen ebenfalls hochproduktiven Kollegen auf Dauerniveau wie Georges Simenon oder Ed McBain.

Noch etwas unterscheidet ihn von solchen Autoren: Kings Hang zur Megalomanie. Die schlägt sich nicht nur in Backsteinformaten um die tausend Seiten nieder (wie in »The Stand«), sondern auch im Errichten der monumentalen Privatmythologie vom »Dunklen Turm«, beziehungsweise vom »Schwarzen Turm«. Diese Parallelwelt-Saga wird nicht nur in eigenen Romanen (»Schwarz«, »Drei«, »Tot«) ausgefaltet, sondern bildet auch den Hintergrund für ganz andere Bücher, die ihrerseits wieder monumentalen Charakter haben wie »Atlantis« oder die mit Peter Straub zusammen verfasste Folge von Romanen um den Cop Jack Sawyer (»Der Talisman«, »Das schwarze Haus«), die immerhin 20 Jahre auseinander liegen.

Diese größenwahnsinnigen Züge machen einerseits nicht-eingefleischte King-Fans hin und wieder mürrisch. Man hat immer das Gefühl, ein paar Nuancen zu verpassen, weil man schlicht keine Zeit hat, jedes Mal die Referenzen auf Tausenden von Seiten nachzulesen. Dieser Größenwahn aber steht andererseits der Verurteilung Kings als glatter Design-Autor im Wege. Eine solche Obsession kann zwar reines Marktkalkül sein, wie zum Beispiel bei James Ellroy, kann aber auch eine Sperrigkeit von Texten hervorbringen, die dem schieren Abverkauf als ihrem einzigen Daseinsgrund zuwider läuft.

Überhaupt scheint eine gewisse Sperrigkeit paradoxerweise ein wichtiges Ingredienz von Kings Ästhetik zu sein. Sperrig sind nicht nur seine Themen, die erstaunliche oft radikale Angriffe auf den American way of life sind: Die Menstruationsprobleme eines Mädchens in einer religiös-hysterischen und puritanisch verklemmten Gesellschaft in »Carrie« gehören in diese Kategorie. Genauso wie die durchweg extreme Dämonisierung des amerikanischen Fetischs Nummer 1, des Autos. »Christine« ist nur der offensichtlichste und berühmteste Fall, bedeutend bösartiger sind zum Beispiel die diversen Fahrzeuge in der Kurzgeschichte »Trucks«, die sich gegen die Menschheit zusammenrotten und auf dem besten Wege sind, sie zu vernichten. Zur Sperrigkeit gehört aber auch, dass King solche thematischen Standards seines Werks in anderen Texten wieder dementiert. In »Mrs. Todds Abkürzungen« etwa wird ein schickes Mercedes-Cabrio zum Glücksvehikel in eine andere Dimension. Und in »Der Buick« schließlich ist der namensgebende Straßenkreuzer ein ganz und gar banales Torhäuschen zu einer moralisch gleichgültigen anderen Welt.

In einer kleinen Stadt Verlassen kann man sich bei King also auf gar nichts. Selbst der Haken für Ideologiekritiker, King stehe in der Tradition der reaktionären Science Fiction der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, der zufolge das Böse immer von außen nach Amerika kommt und sich im Fremden manifestiert, funktioniert nicht ohne heftige Textbeugung. Der Fremde, der den kleinen Laden für »Needful Things« (so der Originaltitel von »In einer kleinen Stadt«) betreibt, ist nur der Katalysator für die fiesen, miesen Instinkte der Kleinstadtbewohner. Die haben die aber auch ohne ihn. Und das mörderische Viehzeug, das in der brillanten Kurzgeschichte »Der Nebel« über die Menschheit herfällt, kommt durch einen Riss in der Dimension, die ein gewissenloses Army-Projekt aufgestoßen hat.

Diese Beispiele mögen als Warnung vor allzu schnellen und glatten Exegesen von Kings Werk ausreichen. Das ist gerade für die nähere Betrachtung seiner drei letzten Bücher von Belang: »Der Buick«, »Atlantis« und »Das Schwarze Haus«. Zusammengenommen bilden sie so etwas wie die vorläufige summa des Genres »Stephen King«. Allen drei Büchern gemeinsam wie vielen anderen King-Büchern auch, ist die minutiöse und poetische Schilderung des kleinstädtischen Amerika, das fern von den intellektuellen Zentren New York und Los Angeles liegt. Fern nicht nur im geographischen, sondern vor allem im sozio-psychologischen Sinn. Stephen King gehört damit in eine literarische Reihe von Autoren, die sich seit Faulkner diesem nicht auf Europa schielenden Amerika gewidmet haben: Jim Thompson, Elmore Leonard, Ray Bradbury, Robert Bloch, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Also - mit Ausnahme Faulkners - Genre-Autoren, die die Rissigkeit dieser Soziotope entweder anhand des Verbrechens, das dort endemisch ist, oder eben anhand des Grauens unter der heilen Oberfläche thematisiert haben.

Alle Genannten hatten ein gutes Händchen dafür Norman-Rockwell-Idyllen mit apple-pie-Geschmack erzählerisch zu kontaminieren, ähnlich wie bei Edward Hopper, bei dem sie nur einen Millimeter vor dem Umkippen in Terror und Horror stehen. An diesen Stellen ist King ein Schriftsteller von Rang und gleichzeitig ein gnadenloser Eklektiker. Das macht es gar nicht einfach, die Stimmungsbilder aus West-Pennsylvania etwa, die »Der Buick« zeichnet, zu verorten: Was könnte sich Bradbury verdanken, was Robert Bloch, was einem zu Unrecht vergessenen Science-Fiction-Autor wie Alfred Bester?

Das schwarze Haus Im Fall von »Das Schwarze Haus« fällt eine solche Analyse leichter: King und Straub beginnen mit einer Kamerafahrt, aufgenommen aus den Lüften. Sie zeigt die Geographie und Soziologie von French Landing im Coulee County, Wisconsin, gibt milde ironische, aber treffliche Kommentare ab und ist doch ein vertracktes Selbstzitat von King. Genauer, von Stanley Kubricks berühmter Kamerafahrt aus dem Hubschrauber am Anfang seiner King-Verfilmung von »Shining«.

Selbstzitat und Selbstreferentialität, mit leichter Verzerrung allerdings, bilden auch das erzählerische Rückgrat von »Der Buick«, der Kings Lieblingsthemen Autos und Risse in der vertrauten Welt zusammenbringt. Diese Geschichte ist aber misslungen, weil King daraus keine Überraschungsmomente ziehen kann. In der Karre tauchen Viecher aus einer anderen Dimension auf und manchmal verschluckt der Buick ein Wesen aus unserer Welt und spuckt es nach »drüben«. Das erstaunt keinen King-Leser mehr, der daran gewöhnt ist, dem Meister Verwerfungen in unserer Realität fraglos abzunehmen. Der Gag ist früh verbrannt: Unsere Welt, eine andere Welt, dazwischen als Portal der Buick. Raus, rein, basta. Auf 496 Seiten ausgewalzt in der Tat der reinste Horror. Ästhetisch.

Ganz anders »Atlantis«. Ein feinziseliertes Porträt Amerikas vor und während des Sündenfalls Vietnam in vier, nur sehr vermittelt zusammenhängenden Teilen von 1960 bis 1999. Alles fängt an in Harwich, Connecticut, wo ein älterer Mann aus der Welt des Dunklen Turms sich vor seinen Häschern, den "niederen Männern in gelben Mänteln" versteckt und dem kleinen Bobby Garfield die Freuden des Lesens anhand von William Goldings »Lord of the Flies« vermittelt. Ausgehend von diesem Kleinstadt-Idyll mit Rissen, das hier fast reiner Bradbury ist, schlägt King den Bogen - über eine Provinzuniversität während der Vietnam-Proteste und eine kleinkriminelle Karriere - nach New York City. In dieser selten thematisierten urbanen Welt ereignet sich dann die Apokalypse der USA: Keine Monster, keine Parallelweltler, keine dies- und jenseitigen Serial-Killer fallen über Kings Figuren her, sondern die eigene Zivilisation. Der ganze amerikanische Konsummüll, Fernseher, Plastikteile, Möbel, alles aus den Versandhauskatalogen und Einkaufsmalls fällt aus dem Himmel auf die Erde zurück und erschlägt in einer grandiosen Vision alles, was da kreucht und fleucht.

Der eklektizistische, selbstreferenzielle und autoreflexive Stephen King (der Reflexion schriftstellerischen Tuns sind gleich drei kapitale Romane gewidmet: »Shining«, »Stark« und »Sie«), der mit diesen literarischen Verfahren postmoderner ist als die gesamte Postmoderne, ist, so scheint es, zu einer Botschaft, zu einer Begründung seiner Horrorszenarien zurückgekehrt, die er schon in der bereits erwähnten Story »Der Nebel« eine Figur hatte formulieren lassen:

"Sogar ein Zombie, der durch die Nacht schleicht, kann sehr erheiternd wirken, im Vergleich zu jenem existenziellen Horror, dass die Ozonschicht sich unter dem vereinten Angriff einer Million Deodorantspraydosen verflüchtigt, die Fluorkarbonat enthalten."

King als literarischer Öko-Kämpfer? Oder auch wieder keine glatte Interpretation? Auch die Sperrigkeit, mit der sich King Vereinnahmungen widersetzt, gehört zu seinem Erfolgsrezept. Die »Verwerfungen« in der Realität, die er im »Schwarzen Haus« ganz explizit und traktathaft beschreibt, das Kräuseln an der Oberfläche der physikalischen Welt, unter der im Guten wie im Bösen alles möglich erscheint, lässt sich als literarisches Megaprojekt nur dann herstellen, wenn es ein Lebensgefühl des Publikums trifft. Denn bei aller texttheoretischen Raffinesse gelingt es King, stets im Dialog mit seinen Lesern zu bleiben. Vermutlich, weil er immer wieder Geschichten erzählt, mit denen das Publikum etwas anfangen kann, und weil er sich niemals über das Publikum erhebt. Er mag es verwirren, täuschen, manipulieren, schockieren, sogar veralbern - aber sein Blickwinkel ist meistens der eines Heranwachsenden mit allen entsprechenden Peinlichkeiten und Niederlagen. Also der Blickwinkel dessen, der noch nicht alles weiß und für den die Welt noch Überraschungen bereit hält. Kings Patchwork-Poetik mag formal wie der raffinierteste Postmodernismus daherkommen, sie funktioniert aber ohne dessen zynisches Kalkül. Es gibt nur eine Gewissheit: Nichts ist unmöglich. Und das ist nicht der schlechteste Point-of-View für einen Schriftsteller.

 

© Thomas Wörtche, 2003
(Freitag, 02.05.2003)

 

Stephen King: Der Buick. (From A Buick 8, 2002). Roman. Dt. von Jochen Schwarzer. Ullstein, München 2002, 466 S., 22 Euro (D)

Stephen King: Atlantis. (Hearts in Atlantis, 1999). Roman. Dt. von Peter Robert. Heyne, München 1999, 591 S., 22,00 Euro (D)

Stephen King & Peter Straub: Das schwarze Haus. (Black House, 2001) Roman. Kein Übersetzer genannt. München: 2002, 832 S., 26,00 Euro (D)
(In den Bibliothekskatalogen wird Wulf Bergner als Übersetzer ausgewiesen.)

 

Eine biographische Skizze und eine Bibliographie finden Sie auf der
Stephen King-Seite
in den Autoren-Infos.

 

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