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Mit Agatha Christie hat der Krimi gesunde rote Bäckchen bekommen

Thomas Wörtche über das Jahrhundert der Kriminalliteratur

 

Ein Jahr vor seinem Ende können wir es ja ruhig sagen: Das 20. Jahrhundert war und ist das Jahrhundert der Kriminalliteratur. Zunächst eher verschämt und unterirdisch, im letzten Viertel aber stolz und selbstbewußt ist sie die meistgelesene Sorte Literatur. Zumindest in den "westlichen Kulturen" und in Japan. Menschen aller Sortierungen (soziologisch, demographisch, geschlechtlich, ethnisch) haben Freude an Kriminalliteratur. Sie hat, weil sie die ältere ist, alle anderen modernen Kunstformen geprägt und beeinflußt: den Comic, das Hörspiel, den Film und das Fernsehen. Ihre Ikonen - der einsame Privatdetektiv, der ruchlose Gangster, der korrupte Richter, der tödliche Vamp, der neurotische Cop, der irre Killer, der sture Kommissar - funktionieren überall auf der Welt. Sie haben vermutlich auch erklecklichen Anteil an der Art und Weise, wie wir die Welt überhaupt wahrnehmen. Das heißt nicht, daß Kriminalliteratur die "wichtigste Literatur überhaupt" sei, wie manche ihrer Propagandisten gerne krakeelen. Aber daß sie zu einer Art universalem Code mit erheblicher Wirkmacht geworden ist, macht sie schon arg interessant.

Bei soviel Euphorie können skeptische Wermutstropfen nicht ausbleiben. Ist Kriminalliteratur, eben weil sie so global zu funktionieren scheint, gerade weil sie von so vielen unterschiedlichen Geistern geliebt wird, nicht genau der Fall, den wir alle fürchten: Ein weltweit nach den gleichen Rezepturen designter trivialliterarischer McText? Mit kontinental unterschiedlichem Flavour, angemischt in amerikanischen Giftküchen und regional vertrieben von willigen Gehilfen? Ästhetisch schlabbrig und wegen seiner Markt-Macht der Tod jedes subtileren und substantielleren literarischen Genusses?

Lassen wir diesen Stachel einfach stecken. Die Hysterie der Verdammung und die Hysterie der Lobpreisung bedingen sich und haben mit den literarischen Realitäten wenig zu tun.

Allerdings hat die Kriminal- wie jede andere Literatur, das gute Recht, differenziert angeschaut und, gerade vom Ende des Jahrhunderts aus, ein weniger aussagekräftiger sortiert zu werden, als es die einfachen "Geschichten der Kriminalliteratur" vorschlagen. Das allerdings macht sie einem nicht gerade leicht. Denn bei der schieren Masse der Produktion (etliche zigtausend Titel pro Jahr) ist es unvermeidbar, daß das gleiche Etikett auf höchst unterschiedlichen Dingen klebt.

Versuchen wir es also einfach mal mit folgender Unterscheidung: Es gibt "Krimis", und es gibt "Kriminalliteratur". Krimis sind nette Textlein, die es in jeder Ausstattung zu kaufen gibt: Als billige Heftchen à la Jerry Cotton und als schicke, teure gebundene Bücher à la Patricia Cornwell. Was drin steht ist ziemlich schlicht und immer wieder recht ähnlich: Eine möglichst putzige Geschichte von Mord & Totschlag und deren Aufklärung, vorgetragen in Sprache und Stil eines abgesunkenen "Realismus" aus dem 19. Jahrhundert. Solche Krimis möchten nicht mehr, als intelligent unterhalten. Im besten Fall. Deswegen sind sie notwendig und legitim und international nach gewissen Mustern herstellbar. Sie schwanken zwischen purem Lesevergnügen und purem Schund - beides schließt sich keineswegs aus. Ob aber letztlich Donna Leon oder Elizabeth George oder Ingrid Noll auf dem Umschlag steht, ist im Grund egal.

Auch Kriminalliteratur erzählt von Mord & Totschlag. Dort allerdings ist das globale Thema literarisch, also ästhetisch organisiert. Von individuellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Diese ästhetische Organisation muß nicht so aussehen wie die des jeweiligen mainstream (einschließlich der "Avantgarden"), aber klar erkennbar sein. Deswegen handelt es sich um Literatur und deswegen läßt die sich nicht international nach den gleichen Schnittmustern herstellen.

Kompliziert wird die Angelegenheit allerdings durch den Umstand, daß auch die Schnittmuster fast alle als singuläre "Literatur" angefangen haben. Dashiell Hammett hat zum Beispiel mit "Bluternte" (1929) einen Roman geschrieben, der zu seiner Zeit keinem bekannten Muster entsprach. Aber die Kriminalliteratur hat er damit für die nächsten 70 Jahre beeinflußt. Also auch den Krimi, denn es gibt ja immer noch Autoren, die wie damals Hammett die Analogie zwischen Politik, Geschäft und Verbrechen aufzeigen wollen. Hammetts Prosa - "eine Sprache ohne Sentiment und ohne Verbindungen", wie sein ebenfalls innovatorischer Kollege Jerome Charyn schwärmt - war nur damals neu: Entworfen für etwas, das literarisch zu behandeln damals eben-falls neu war. Aber nicht vorausset-zungslos. Denn Hammett kam aus einer "schundliterarischen" Tradition - der der Pulp-Heftchen, in denen "kunstlos" von krudestem Rassismus bis zu scharfsinnigen Analysen der amerikanischen Gesellschaft alles möglich war. Krimi und Kriminalliteratur ergeben also zu-sammen "das Genre" - denn Kriminalliteratur taugt auch als Literatur nur etwas, wenn sie das Genre zwar erweitert, aber nicht verläßt. Krimis hingegen repetieren bewährte Strukturen. Es entstand ein 100-jähriges Kontinuuum, das stets nach einem gewissen Algorithmus abläuft. Innovatoren und Erfüller resp. Ausschreiber der jeweiligen Innovation folgen mit schöner Regelmäßigkeit aufeinander. Edgar Allan Poe, tief in der europäischen Romantik verwurzelt, hatte das Grundthema aufgeworfen: In der Rue Morgue ist ein scheußlicher Doppelmord passiert. Wer war der Täter? Gegen seine eigene, reichlich mit Irrationalismen gespickte Romantik setzte Poe literarisch die rationalen Fähigkeiten seines C. Auguste Dupin, der mit kaltem Verstand aus der Frage "whodunit" ein ganzes Genre machte. Daß schon 1841 der Täter nach der deduktiven Logik letztlich ein Affe gewesen sein mußte, sollte eine gehörige Warnung für allzu flinke Realitätsunterstellungen sein. Literaturgeschichte braucht Zeit.

Nach den "Morden in der Rue Morgue" mußte fast ein halbes Jahrhundert vergehen, bevor sich das, was wir heute Krimi nennen, entwickeln konnte. Was in den "Kolonien" angefangen hatte, kam home to Eng-land: Sir Arthur Conan Doyle und Sherlock Holmes machten möglich, daß jeder weiß, was gemeint ist, wenn man von "Krimis" redet. Aber etwas war unterwegs passiert: Poe galt als Hochliteratur, Conan Doyle als "Unterhaltungsschriftsteller". Der Krimi war im Kanon gleich mal von high nach low durchgerutscht. Da unten sollte er auch in den nächsten Dekaden bleiben. Wer aber in der ästhetiktheoretischen Gosse künstlerisch überleben will, muß Muskeln ansetzen. Das rein ökonomische Überleben hingegen fiel schon damals leichter. Ab 1920 kann man das sehr schön an Agatha Christie beobachten. Sie paßte sich erstens den Distributionsformen von üblicher Literatur an: War der Krimi bis dahin hauptsächlich eine Kurzform (man vergißt gern, daß sowohl Conan Doyle als auch sein Antipode G.K. Chesterton vornehmlich Short Stories geschrieben haben - es gibt keinen Father-Brown-Roman), so verlängerte Lady Agatha ihn zum Roman. Außerdem tilgte sie alles, was von Dupin bis Holmes irritierend gewesen sein mochte. Problematische Grübler, rauschgiftsüchtige Helden mit bedenklich deviantdekadenten Zügen wichen ihren netten, aber typisierten Helden ohne Eigenschaften. Die hatten dafür hohe Identifikationswerte. Mit Agatha Christie hatte der Krimi gesunde rote Bäckchen bekommen. Und jeden Anspruch auf literarische Organisation von Texten mit robustem Pragmatismus aufgegeben. Sir Archibald greift sich ans Herz und ist tot, Hercule Poirot stellt viele Frage, kann weitere Todesfälle nicht verhindern, versammelt am Ende das ganze Personal des Romans und zieht den Mörder aus dem Ärmel. Die Illusion, der geneigte Leser könne mitraten, ist eine der hartnäckigsten Legenden des Krimis und nur aufgrund allergröbster Beugung jeder Logik und Plausibilität einzulösen. Die sprachliche Inszenierung des Ganzen ist wenig aufwendig. Einfache Sätze, schlichte Dialoge, entlang der Zeitachse "und-dann", und alle zwanzig Seiten eine Zusammenfassung was-bisher-geschah. Die schnelle Knabberbarkeit macht vermutlich diesen Typus Krimi so beliebt, und bildet die heimliche, uneingestandene "Norm" - bis heute. Aus jenem "goldenen Zeitalter" rührt auch das immer noch gern bemühte Credo, wenn's zu Goethe nicht langt, dann immer noch zu 'nem Krimi.

Zurück über den großen Teich, wo es nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weltwirtschaftskrise nicht so kuschelig zuging. Denn allerspätens dann wurde der "amerikanische Traum" auch für die brüchig, die die "richtige" Hautfarbe hatten. Daß die literarische Spielform "Krimi" im guten, alten Europa schon so fest ausgeprägt und profiliert war - und natürlich auch amerikanische Adepten gefunden hatte (S.S. van Dine oder Earl Derr Bigger, z.B.) -, war die Voraussetzung dafür, daß sie so produktiv mit den bösen Realitäten zusammenknallen konnte. Raymond Chandler lobte völlig zu Recht an Hammett, er habe den Mord den Menschen zurückgegeben, die Gründe zum Töten haben. So hatte sich der Kriminalroman auf den langen Weg von der papiernen Angelegenheit zur "realistischen" Kunstform gemacht. Und gleichzeitig Anlaß zu viel Mißverständnis gegeben. Denn so viele korrupte Politiker und miese Polizisten Hammetts bösartiger und fetter Continental Op auch umlegte, er blieb eine literarische Figur. Seinen "Realismus" bezog er daraus, daß Hammett ihn und seine Welt mit ästhetischen Mitteln organisierte, die ihn und seine Welt der Gewalt und Korruptheit glaubwürdig und plausibel machten. Ebenfalls zu Glaubwürdigkeit und Plausibilität trug bei, daß der einzelne Mord, das einzelne Verbrechen, die bei Christie & Co. noch helles Entsetzen ausgelöst hatten, für Hammett nicht mehr das Skandalon war. In der "Bluternte" fallen die Leichen schockweise an, vor aller Augen und höchst unrätselhaft. Und damit war auch das allesbestimmende Strukturmerkmal des Krimis vom Tisch: Natürlich gibt es heute noch die Suche nach einem Mörder - aber sie ist nur noch ein Sujet unter vielen anderen.

Mit daran schuld ist ebenfalls die Entwicklung, die der Kriminalroman in Kontinentaleuropa genommen hat. Genauer: in Frankreich, das als einziges Land dort eine eigene, genuine kriminalliterarische Entwicklung zu bieten hat. Die Liebhaber verschlungener Pfade dürfen gerne darüber grübeln, ob das auch damit zu tun hat, daß Poe gerade in Frankreich und dort gleich von so einem erlauchten Geist wie Baudelaire freudig aufgenommen worden war. Aber die Entwicklung des französischen Kolportage- und Feuilletonromans, mit einem kräftigen Schuß Abenteuer, also die Lust der Messieurs Balzac, Sue, Hugo und Dumas an Geheimnis, Intrigue, Machination, Kloaken und Mantel & Degen nebst den Geheimnissen der Cité lumière, führten zu einem recht eigenständigen, fast surrealen französischen Kriminalweg: Zu Arsène Lupin, dem Meisterdieb, und zu Fantomas, dem Mann mit den tausend Masken. Die Freude an solchen eleganten Spielereien ist den Franzosen bis heute geblieben. Die Abenteuer des omnipotenten "Zorro von links", dem Poulpe (so heißt eine extrem populäre, zeitgenössische Romanserie, an der fast alle französischen Autoren von Rang mitarbeiten), leiten sich partiell davon ab, ebenso die sinister-komischen Abenteuer der schrecklichen und bizarren Wesen Luj Inferman' und La Cloducque, die Pierre Siniac (auf der Liste der unterschätzten Schriftsteller des Jahrhunderts ganz oben) erschaffen hat. Und so konnte bei derlei grotesken Hybridformen eine "realistische" Korrektur auch in Frankreich nicht ausbleiben. Die kam aus Belgien. Nur ein paar Jahre nach Hammett betraten Georges Simenon aus Lüttich und sein Commissaire Maigret die Bühne. Der suchte einige Zeit lang "klassisch" nach dem Mörder, interessierte sich aber bald, neben dem guten Essen und seiner geliebten Frau, für die Hintergründe und das Umfeld von Mord - und das wurde wesentlich wichtiger als die Frage "wer war's?" So wie Hammett das Korsett des angelsächsischen Krimis zertrümmert hatte, zertrümmerte auch Simenon mit seinen Romanen ohne Maigret, die er romans dur nannte, die Form des französischen Krimis und die des angelsächsischen gleich mit. Kriminalroman war zum freestyle-Unternehmen geworden. Das kann man auch daran merken, daß die besseren Texte der "gebundenen" Form zunehmend als deren Parodien auftraten - in Argentinien z.B. die "Sechs Probleme für Don Isidro Parodi" von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares.

Aber wie man's dreht und wendet: Nach Hammett und Simenon driften Krimi und Kriminalliteratur zunehmend auseinander - die Verbindlichkeit der Form ist außer Kraft gesetzt, und das schafft Freiräume. Besonders die Erfahrungen des 2. Weltkriegs und die Erkenntnis, daß ein ganzer Staat eine riesige Verbrecherorganisation sein kann, mit den meisten Bürgern als Komplizen, nahmen auch der Kriminalliteratur jede Unschuld. Mit Mickey Spillane trat in den Nachkriegsjahren ein Sozialcharakter auf, der "Krimis" zum ersten Mal in den Dienst der Macht (des McCarthyismus) stellte. In einer westlichen Demokratie. Das gab es sonst nur in den totalitären Regimen des Ostblocks und, abgemildert, im Franco-Spanien. Spillane und ein paar Nachzieher blieben allerdings die Ausnahme, Kriminalliteratur eine grundsätzlich demokratische Veranstaltung von unten.

Ab jetzt begab sie sich auch direkt ins Handgemenge mit der Realität. Die Muskeln, die sie als Subliteratur entwickeln mußte, kamen ihr jetzt zugute. Gerade ästhetisch. Der in Paris exilierte schwarze Amerikaner Chester Himes war seit den 50er Jahren ein solcher "Paradigmenwechsler". Seine gewalttätigen und gleichzeitig komischen Romane um die beiden greulichen Cops Gravedigger Jones und Coffin Ed aus Harlem, randvoll mit Streetslang, vibrierend vor Hitze, klirrend vor Kälte, Gut und Böse untrennbar verwebend - und schließlich (in "Blind, mit einer Pistole") mit aufgekündigtem linearen Erzählen - fegten die letzten verbindlichen Konventionen des Genres beiseite. Kriminalliteratur war auf allen Ebenen voll emanzipiert. Sie hatte in den Jahren des "Kanonstreits" (Norbert Elias) zwischen U und E die zunehmend bloß formal gewordenen Exerzitien der Moderne und Postmoderne überholt. Kriminalliteratur war seitdem mit allen literarischen Wassern gewaschen und erzählte aus allen möglichen Segmenten der Wirklichkeit. Sie war und ist der schlagende Beweis, daß man sehr wohl sehr lebendig erzählen kann und daß das Erzählen nicht totzukriegen ist.

Patricia Highsmith schnitt in die psychischen Gekröse der Zeitgenossen, Joseph Wambaugh mikroskopierte die amerikanische Polizei, kam damit zu unschönen Schlüssen fürs große Ganze und wurde vom kriminalliterarisch auch nicht unwichtigen Tom Wolfe für seine grotesken Cop-Novels in den Pantheon der Gegenwartsliteratur gehoben. Am anderen Ende der Welt inszenierte William Marshall den Schwanengesang der Kronkolonie Hongkong als virtuosen Slapstick-Comic. Paco Ignacio Taibo in Mexiko zeigte, daß lateinamerikanische Romane nicht fünf Kilo wiegen müssen, um magisch, realistisch und auch noch komisch, surreal und sehr politisch zu sein. Masako Togawa rüttelte die sexuell eher klemmigen Japaner mit ihren bösen Obsession-Thrillern auf. Die Franzosen des néo-polar griffen ihre grotesken Traditionen wieder auf, politisierten sie radikal und gingen den Mythen der Grande Nation ans Leder, wie das Geheul um die skandalträchtigen Bücher von Jean-Patrick Manchette bis Didier Daeninckx immer wieder zeigte. In England erklärte der an Düsterkeit nicht mehr zu steigernde und mit jeder literarischen Raffinesse und vor allem Radikalität arbeitende "BritNoir" von Derek Raymond den moralischen Bankrott der Prä-Blair-Gesellschaft.

Bei all dem gibt es kaum ein literarisches Verfahren à la mode, das nicht von der Kriminalliteratur genutzt wird (und übrigens oft kriminalliterarische Ursprünge hat): Verknappung, Reduktion, Montage, Karnevalisierung, Polyphonie - was immer. Aber: Wird denn Kriminalliteratur damit nicht klammheimlich Literatur wie jede andere? Rutschen die Unterschiede dadurch nicht weg, werden die Kategorien nicht leer und nichtssagend? Nein: Davor schützen die besagten Muskeln, gerade die Herkunft aus den literarischen Niederungen also. Kriminalliteratur bleibt auf Augenhöhe mit ihrem alltäglichen Gegenstand (einen alltäglicheren als "Kriminalität" gibt es kaum), bleibt am Publikum mit ihren unabdingbaren Elementen thrill, suspense und entertainment und wälzt sich weiter in Schmutz und Politik, weil sie ohne Kontexte sinnlos ist. Sie ist Schlachtfeld für den Geschlechterkampf, seit die Weiber (Paretsky, Cody, Grafton) den Kerlen ihre Lieblingsfigur, den harten Schnüffler, weggenommen haben. Sie ist Austragsort von literarisch geführten Diskussionen um politische und private Moral. Verbalscharmützel wie die um die kalkulierten Schwarzmaler Ellroy und Vachss illustrieren das sehr schön. Mit anderen Worten: Kriminalliteratur steckt immer da mitten drin, wo es nicht um ewige Werte geht, sondern um ganz pragmatische Sujets im Hier und Jetzt.

Und Krimis? Die gibt es immer noch - und immer mehr. Sie haben, mit gewisser Verzögerung, die zeitgeistigen Gewänder der jeweiligen Vorreiter angelegt und zu knitterfreien Fältchen drapiert. Lite-Formen ohne scharfe Kanten und Zacken, die problemlose Unterhaltung versprechen. Die roten Bäckchen der Agatha Christie sind wieder da - als Frauenkrimis, Katzenkrimis, historische Krimis, Koch-Krimis und Verständigungstexte für vermutlich jede gesellschaftliche Gruppierung und jeden Interessenverband.

Eine solch stämmige Krimi-Kultur gibt inzwischen auch in Deutschland, das aus bekannten historischen Gründen (fast) keine einschlägige Tradition hat. Nur mit Kriminalliteratur tut man sich - Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel - nach wie vor schwer, obwohl mit der "Dreigroschenoper" und "Berlin Alexanderplatz" doch eigentlich spannende Anknüpfungspunkte vorhanden sind.

So hat sich Kriminalliteratur binnen einem Jahrhundert von der Randständigkeit zur etablierten Literaturgattung gemausert. Voll ausgestattet mit Avantgarde, Konfektion, Schrott & Schotter und sekundärer Infrastruktur, transnational verstehbar und gleichzeitig regional spezifisch. Die einzige Gefahr, die ihr wirklich noch droht, ist, vom eigenen Erfolg totgequetscht zu werden.

 

© Thomas Wörtche, 1999
(Tagesspiegel, 10.01.1999)

 

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