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Die Straßen von Baltimore

Thomas Wörtche über die Fernsehserie »Homicide«

 

1988, als 21 Jahre nach ihrem Tod die Asche von Dorothy Parker zur Beisetzung nach Baltimore gebracht wurde, stieg der Reporter David Simon bei der "Homicide Unit" des Baltimore Police Departments ein. Im fiktiven Rang eines "police interns" ("Polizeipraktikanten") begleitete er die Schicht von Lieutenant Gary D'Addario und seinen neunzehn Detectives durch den Polizeialltag. 1991 erschien seine Reportage "Homicide - A Year On The Killing Streets" als Buch (bemerkenswerterweise wurde ausgerechnet dieser seriöse "True Crime"-Klassiker nicht ins Deutsche übersetzt), heimste sofort die Prestige-Preise "Edgar" und "Anthony" ein und diente als Materialbasis für die 1993-97 gedrehte 55teilige TV-Serie "Homicide - Life On The Street".

Wobei wir beim Thema wären: Denn seit dem 5. Januar 1998 dürfen auch deutsche Zuschauer sich an dieser außergewöhnlichen Serie erfreuen, produziert von Barry Levinson, nach einem Konzept von Paul Anastasio und erstaunlich intelligent sychronisiert. Falls sie sie finden: Montag nachts, gern um 23.55 Uhr oder um 0.30 auf Vox, in Programmvorschauen oft als "Actionserie" angekündigt.

Nichts ist falscher. "Homicide" ist ein Schlag ins Kontor besonders deutscher TV-Macher und ihrer gebetsmühlenhaft wiederholten Glaubenssätze: Reale Polizeiarbeit sei langweilig und tauge nicht als Stoff publikumswirksamer Fernsehserien. TV-Polizisten müßten immer als Chef & Assistenten-Gespann agieren, weil man mehr Personen dramaturgisch nicht in Griff bekomme. So war es auch wieder bei einem ansonsten spannenden Symposium über den deutsche Kino und TV-Krimi an der Berliner Akademie der Künste im Juni zu hören, in ermüdender Stupidität. Bei "Homicide" agieren immerhin zehn feste Hauptfiguren plus eine Reihe fester Nebenfiguren ohne jedes dramaturgische Problem, und da, wo Polizeiarbeit am "langweiligsten" ist, sind die Episoden am spannendesten: Wenn es z.B. um Behördenleerlauf geht, um Protokolle und Papierkram. So sind die Detectives um Lieutenant Al Giardello - ein Schwarzer italienische Abstammung, eine Glanzrolle für Yaphet Kotto - in den letzten Wochen damit beschäftigt, die sehr blutigen Folgen eines Tippfehlers zur verarbeiten. Oder um den schlichten Frust des Nichtstuns, weil auch in Baltimore nicht stündlich Mörder umgehen. Also sitzen sie eine Folge lang einfach in ihrem scheußlichen Großraumbüro herum: Der Alt-Hippie John Munch und der Veteran Stanley Bolander, der All-American-Clean-Cut-Boy Tim Bayliss und der schwarze Snob und Jesuitenzögling Frank Pembleton, die knallharte Kay Howard und der pausenlos in Krisen steckende Beau Felton, der amokfahrende Meldrick Lewis und der bald darauf durch Selbstmord ausscheidende Verschwörungstheoretiker Steve Crosetti.

Alles wird durchgehechelt: Drogen, Schußwaffen. Karrieren, Rauchen, Geschlechter und Hautfarben - über alles wird gespottet, gehämt. Es wird gelitten und geheult, getobt und gebrüllt. Und ein wisecrack jagt den anderen. Nicht spannend? Im Gegenteil. Das liegt an den grandiosen Schauspielern (Ned Beatty als Bolander z.B. oder Richard Belzer, Stand-Up-Comedian aus L.A. in seiner ersten Fernsehrolle als Munch liefern wie alle Darsteller durchgängig -höchstes Niveau) und an den sehr intelligenten Drehbüchern. Die begreifen nämlich Verbrechen und Aufklärung nicht als dramaturgisches Korsett, nicht als Sensation, sondern als unendliches Kontinuum. Deshalb werden Morde manchmal in drei Minuten "aufgeklärt", weil etwa der Täter noch auf der Leiche sitzt, oder sie werden es nie, oder sie ziehen sich über zwanzig und mehr Folgen durch die Serie. Gut und böse sind höchstens Annäherungswerte. Polizei besteht aus Polizisten, und so haben alle ihren Hintergrund, ihre Probleme, Ticks und Obsessionen. Ihre eigene Sprache und - wichtig - Körpersprache. Als der Jesuit Pembleton Morde bearbeitet, die vor katholischen Kirchen geschehen, agiert er mit korrekten weißen Baumwollhandschuhen wie der Baron Samedi des Voodoo, ohne daß diese groteske Komik je verbalisiert oder sonst thematisiert würde. Sie ist einfach da. Sowas schafft Komplexion, ebenso wie die sparsam, meist ironisch kommentierend eingesetzte Musik.

Weil Polizei auch ein politisches Organ ist, ergeben sich Verwicklungen auf der politischen Ebene, über so banale Dinge wie Budgets, Equipment und Personalpolitik. Der oben erwähnte Tippfehler, der drei unserer Cops fast ums Leben bringt, ist auf diese Art mit einer zynischen Polizeiführung und der wahltaktischen Funktion von Geldern für eine vernünftige EDV verwoben. Und natürlich ist Polizei auch korrupt, aber das muß man nicht groß verhandeln.

Gedreht ist "Homicide" in den Straßen von Baltimore, sozusagen veristisch. Schauspieler und Set haben null Glamour. Wer seit Tagen im Dienst ist, hat fettige Haare. Dafür setzen alle auf zurückhaltendes, aber unglaublich präzises Spiel. Gaststars wie Steve Buscemi oder Tony Lo Bianco fügen sich hervorragend ein.

"Homicide" ist jedoch kein Kammerspiel. Das läßt der Stoff nicht zu, der die TV-Realität realitätsanalog strukturiert. Es gibt scheußliche Morde, dumpfe Gewaltakte, tragische Unfälle, komische Tode, immer gesehen aus dem Blickwinkel der Polizisten, nie der Täter. Letztlich zeigt "Homicide" nicht nur "wie Polizisten in ihrem Job arbeiten, sondern wie der Job an den Polizisten arbeitet". Dieser Satz stammt von Joseph Wambaugh, der in den 70ern die realistische Wende des Genres mit seinen Cop-Novels herbeigeführt hatte. Ohne seinen Einfluß kein "Hill Street Blues", kein "NYPD Blue" und eben kein "Homicide", das bisher gelungenste Projekt bei der Umsetzung von "Realität" in TV-Kunst. Am Montag, tief in der Nacht, ist es wieder so weit.

© Thomas Wörtche, 1998
(Freitag)

 

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