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Die Semantik des Small Talk

Thomas Wörtche im einem Gesprächsversuch mit Elizabeth George

 

Thomas Wörtche: Miss George, können Sie sich selbst den enormen Erfolg Ihrer Bücher erklären, die doch eigentlich einem "altmodischen" Muster folgen?

Elizabeth George: Ich denke, daß ihre oberflächliche Erscheinung altmodisch ist, ihre behandelten Themen aber nicht altmodisch sind. Ich nehme eine altmodische Struktur und habe sie mit zeitgenössischer Bedeutung belebt.

Thomas Wörtche: Ihre Bücher spielen in England, Sie wohnen in Californien - haben Sie auch in England gelebt?

Elizabeth George: Ich bin viel dort herumgereist. Die längste Zeit, die ich in England war, waren 5 Wochen. Da war ich 17 Jahre alt. Sonst bin ich nur dort, um gezielt für ein Buch zu recherchieren, drei Wochen vielleicht, was Streß genug ist. Dann muß ich für das selbe Buch möglicherweise noch mal drei Wochen zurück.

Thomas Wörtche: Und woher haben Sie Ihre Informationen über die britischen Gesellschaft?

Elizabeth George: Sie meinen über das britische Klassensystem?

Thomas Wörtche: Nicht nur das Klassensystem, die ganze Atmosphäre, Musik, Mode, was wird gesprochen, was wird gedacht...

Elizabeth George: Oh ja, das ist das Produkt der Recherchen. Die Bücher sind das Resultat vieler, vieler Recherchen um sicherzustellen, daß alle Details völlig korrekt sind. Bevor ich ein Buch beginne, definiere ich erst mal den Handlungsbogen. Das ist normalerweise das Verhältnis Mörder - Opfer - Mord. Nicht immer, aber normalerweise. Dann bestimme ich den Ort der Handlung. Normalerweise ist das ein Ort, wo ich mal hinmöchte. Es kann natürlich dann passieren, daß dieser Ort mich wahnsinnig macht. Oder ich siedle die Handlung in einer Institution an, über die ich schon immer mal was lernen wollte, wie zum Beispiel das Internat in Well schooled in murder. Wenn ich also den Handlungsort habe, dann gehe ich dort hin. Manchmal habe ich mich schon mit Leuten verabredet, manchmal suche ich mir dort erst die Leute, mit denen ich reden will. Und während ich dort bin, sammle ich soviel background wie ich bekommen kann.
      Ich schaue mir die Architektur der Gegend an, die Pflanzen- und Tierwelt, ich laufe herum und sammle Blätter, stopfe sie in Umschläge und schreibe drauf, wie die Bäume heißen, von denen sie kommen. Ich versuche zu verstehen, welche Arten von Vegetation von Hecken umgeben sind, aus welcher Sorte Stein die Häuser gebaut sind, welcher Periode sie zuzurechnen sind. Diese Art von Details eben.
      Von Menschen erschleiche ich mir eher Details. Ich würde sie nicht fragen: "Was ist das für ein Gerät auf dem Bauernhof?", sondern hoffen, daß mir das in einem Gespräch klar wird. Immer in der Hoffnung, daß man alles irgendwie in einem Roman verwenden könnte. So lerne ich über das alltägliche Sprechen die Kultur kennen. Leute reden, Leute kommentieren die Tagesereignisse, ihr kulturelles Umfeld. Ich erinnere mich an eine Frau, die von ihrer Tochter erzählte. Diese Tochter arbeitete an einer Public School und sie erzählte mir, daß diese Schulen scheußlich seien. Lauter Immigranten: Westinder, Pakistani, Inder und die, die das nicht sind: die sind Iren (Heiterkeit)
      Für mich sagte das alles. Ich habe den Mund gehalten und mich nicht gestritten und gefragt: Haben Sie da gerade gemerkt, was Sie gesagt haben. Ich habe es mir natürlich notiert. Mir hat es viel über die Xenophobie, über die Empfindlichkeiten, die Idiosynkrasien in England gesagt. Und so bade ich nachgerade mit offenen Ohren in meiner Umgebung. Ich rede mit jedermann und lege mir keine Beschränkungen auf. Eines nachts zum Beispiel, vor einem Theater auf dem Leicester Square, im November, beobachtete ich einen Kastanienverkäufer und versuchte ihn mir als Figur auszumalen. Ich lebe ja in Kalifornien und da kennt man sowas nicht. Ich war jedenfalls fasziniert, wie der Mann aussah, wie er mit seinem Herd hantierte und so weiter.
      Plötzlich kam eine Gruppe von jungen "Ruffians"* auf mich zu, stockbesoffen, und wollten wissen, was ich da mache. Ich versuche, den Mann da zu beschreiben, sagte ich. Warum? Weil ich aus Südkalifornien komme und noch nie einen Kastanienverkäufer gesehen habe und weil ich Schrifstellerin bin. Davon waren sie sofort fasziniert. Warum ich dann über England schreibe? Weil ich England mag. Was es denn an England zu mögen gebe? Die Leute seien so nett zu mir, sie würden mir eine Menge Informationen geben. Was!? Die Leute würden mit mir reden? Ja, sagte ich, das würden sie.
      Das war eine Klassenfrage für sie, denn sie waren richtig überrascht, daß Leute mit mir redeten. Ich meinte damit eher die upper class. Sie meinten, in dem verdammten Land würde niemand mit mir reden. Klar, sagte ich, ihr redet ja auch mit mir. Das war sehr nett. Es gab mir eine Einsicht in ihre Art, ihr Land zu sehen. Als Land ohne Hoffnung, als Land scharfer Klassengegensätze, wo sie wenig Chancen hatten, herauszukommen. Alle solche Dinge archiviere ich in meinem Gedächtnis, und daraus forme ich dann meine Figuren.

Thomas Wörtche: Ich höre immer wieder Klagen von Amerikanern, die in England recherchieren, daß man nichts aus den Leuten herausbringen könnte außer Small Talk...

Elizabeth George: Oh ja, die Engländer sind die Weltmeister im Small Talk. Ich habe das immer erstaunt bewundert, ich könnte das nicht. Meine Devise ist: wir reden ernsthaft miteinander oder lieber gar nicht. Die verpacken ganze Diskussionen im Konversationston. Unglaublich...

Thomas Wörtche: Vielleicht gibt es ja eine bestimmte Semantik des Small Talk, bestimmte Bedeutungen. Ist Ihnen das aufgefallen?

Elizabeth George: Ähh, ja, ähh möglicherweise, ich weiß nicht. Wenn ich über ganz bestimmte Dinge mit ihnen reden will und sie wissen, warum ich da bin, dann können sie schon sehr offen sein. Aber ich muß schon sehr aufpassen, um ein vollständiges Bild von was auch immer zu bekommen. Zum Beispiel die Schuldirektoren, mit denen ich für Well schooled in murder gesprochen habe. Natürlich wollten sie mir ein blendendes Bild ihrer Institutionen geben. Deswegen habe ich dann auch mit Schülern gesprochen, mir den Unterricht angehört, mit den Lehrern geredet, mit Hausmeistern und Gärtnern. Erst dann konnte ich mir in etwa ein Bild von diesem Schulsystem machen. Wenn ich nur mit den Direktoren geredet hätte, dann hätte dieses Bild ganz anders ausgesehen.

Thomas Wörtche: Ich hielt Ihre Beschreibung im Roman des Gegensatzes von außen und innen in der Tat für eine Metapher dieser Verhältnisse...

Elizabeth George: Wie sie sind, ja. Erstaunlich, von außen wunderbare Anlagen, gepflegt großzügig und wenn man reingeschaut hat, der wirkliche Horror. Ich habe einen Schüler gefrag, wie lange die Fensterscheibe in seinem Zimmer schon kaputt ist - es war im Oktober-, da sagte er: naja, die ist seit einem Jahr schon kaputt....

Thomas Wörtche: Das hört sich ja fast nach DDR an...

Elizabeth George: Ja, auf jeden Fall sehr erstaunlich... So konnte ich auf jeden Fall vermeiden, eine romantisierende Version des britischen Schulsystems zu geben. Ich denke, mir ist die Beschreibung ganz authentisch gelungen. Leute, die das aus eigener Erfahrung kennen, haben mir das bestätigt.

Thomas Wörtche: Naja, wenn ich Autobiographien lese, von Roald Dahl etwa, oder von Eric Ambler, dann erkenne ich die Verhältnisse natürlich...

Elizabeth George: ....?....

Thomas Wörtche: Eine ihrer Figuren hat mich zunächst beeindruckt. Sergeant Barbara Havers. Wie sind Sie auf sie gekommen? Wollten sie die topische Kombination der genrenotorischen Partner verändern?

Elizabeth George: Zunächst einmal wollte ich zwei Detektive haben. Einmal, damit der eine Detektiv dem anderen ständig seine Ideen mitteilen kann und nicht immer zur Introspektion gezwungen ist, und zweitens muß einer die Fragen stellen, der andere mitschreiben - vielleicht wissen Sie, daß in den USA die Teams der Mordkommissionen immer zu zweit arbeiten. Dann wollte ich, daß ein Teil eine Frau ist...

Thomas Wörtche: Mein erster Eindruck war ja gerade, daß die Frau die Hauptfigur sein könnte und Lord Asherton der Partner, der Watson...

Elizabeth George: Oh nein, nein. Wie interessant!

Thomas Wörtche: Das war gerade mein Eindruck auf den ersten Seiten des ersten Buches. Dann allerdings kippte das Verhältnis um...

Elizabeth George: Naja, im zweiten Buch verliert er ja die Objektivität und sie muß ihn korrigieren, aber er blebt natürlich die Haupt-Detektiv.

Thomas Wörtche: Aber sie ist doch die interessantere Figur mit ihrem Hintergrund. Proletarisch, verzweifelte Familienverhältnisse, rüde, unhöflich, gemein.

Elizabeth George: Hmmm, hmmm...

Thomas Wörtche: Thomas Lynley, Lord Asherton ist doch der typische britische Detektiv; zwar bei Scotland Yard, aber schon sehr verwandt mit Lord Peter Wimsey oder Albert Campion. Und deswegen dachte ich, es könnte reizvoll sein, diesen Typus von einer Prolo-Frau konterkarieren zu lassen.

Elizabeth George: Ja, das hätte ich vielleicht machen können; aber ich glaube, dann hätte es Probleme gegeben, in England so viel zu verkaufen, wie ich verkauft habe...

Thomas Wörtche: Dann war das also ein ökonomisches Kalkül?

Elizabeth George: Oh nein, natürlich nicht. Ich hatte nie auch nur die Idee, aus Barbara Havers den Haupt-Detektiv zu machen. Das liegt an der ursprünglichen Konzeption der Romane, und das hatte nie mit... Ich habe das ganze Projekt immer als verschiedene Teile verstanden, die am Ende richtig zusammengesetzt sind. Und deswegen setze ich meine Figuren aus einzelnen Stücken zusammen. Das allererste Stück des Puzzles war übrigens St. James und entsprang meiner ursprünglichen Absicht, formula-detectiv-stories zu schreiben, wie sie von Edgar Allan Poe erfunden worden sind, wo Sie einen exzentrischen Detektiv und seinen Helfer haben. Und St.James war mein exzentrischer Detektiv. Und dieser ungewöhnliche Typ brauchte einen Freund in Scotland Yard, der ihm die Fälle zuspielt. Und das war Thomas Lynley.
      Und dann kam ich auf die Idee, Lynley mit einem Titel auszustatten, weil mir das britische System gefiel, wo jemand einen normalen Namen haben und Komma Lord Byron heißen kann, und so habe ich Thomas Lynley Komma Lord Asherton erfunden. Als ich mir das alles ausgedacht habe, habe ich nie daran gedacht, veröffentlicht zu werden. Ich habe nur aus Spaß geschrieben.
      Die ersten beiden Bücher habe ich nur mit St.James und Lynley, Deborah und Lady Helen bevölkert. Sgt. Havers gab es da noch gar nicht. Erst beim dritten Buch dachte ich, na, Lynley kommt immer schlecht weg, gib ihm doch auch mal einen Fall. Aber ihm einen Fall zu geben, bedeutete auch, ihm einen Partner zu geben. Lynley war groß und schön, erfolgreich, gut erzogen, ein Lord, und deswegen brauchte er jemand, der über ihn dachte wie ein normaler Leser: der ist zu wundervoll, der ist zu perfekt, zu ideal. Da hatte ich Angst, die Leser könnten ihn nicht mögen. Also schuf ich Barbara Havers, die ihn stellvertretend für die Leser nicht mochte.
      Sie erlaubte dem Leser, Lynley von Herzen zu hassen. Das erste Buch, das veröffentlicht wurde, also The Great Deliverance, beginnt damit, daß Sie Lynley nicht sehen, sondern aus dem Mund von Barbara Havers von ihm hören. Er sei ein Arschloch, ein Aufreißer, der sich den durch den Yard nach oben bumst. Einer der seine gesellschaftliche Position ausnutzt, um Karriere zu machen, aber der nichts kann. Das bin aber ich, die Autorin, die den Lesern immer wieder sagt: Haßt ihn, haßt ihn, haßt ihn.

Thomas Wörtche: Ich habe ja folgenden Verdacht. Der Boom von Kriminalschrifstellerinnen in den letzten Jahren ist bekanntlich gewaltig. Autorinnen wie Sara Paretsky oder Sue Grafton und viele andere, die etwa in den Sisters in Crime organisiert sind, haben ja spezifisch männliches Terrain besetzt, nämlich den hardboiler. Da liegt es doch nahe, daß Sie den klassischen britischen Typus neu besetzen wollten, eben in dem Sie die Klischee-Kombination umkehren?

Elizabeth George: Nein, nein, das wollte ich nie. Ich dachte nur, jeder Detektiv braucht einen Partner und zwar einen möglichst gegensätzlichen. Er ist in Eton erzogen, gebildet, von brillanter Intelligenz. Natürlich muß er der überlegene sein...

Thomas Wörtche: Muß er?

Elizabeth George: Natürlich muß er einen höheren Rang haben... Als fünfter Earl von... Das geht gar nicht.

Thomas Wörtche: Ich rede auch gar nicht von Rängen, sondern von Fähigkeiten...

Elizabeth George: Oooooh, oooh .... Äh, ich meine, äh, . Nein, nein, sie ist ja intelligent und clever, sie ist Lynley ebenbürtig. Sie weiß, wenn er sich irrt; sie bringt ihn auf die richtige Spur zurück. Oder sie haben beide unrecht am Ende. Aber er ist die Hauptfigur.

Thomas Wörtche: Das hat aber doch auch damit zu tun, daß Sie die Mystery Story stets mit Elementen der Familien- Saga kombinieren. Der vierte Roman, der auf deutsch erscheinen wird, spielt doch auf dem Gut der Ashertons und in den ersten drei gibt es immer einen Subplot um das Gefühlsleben von Asherton und St. James.

Elizabeth George: Das stimmt nicht. Der Roman spielt in dem Dorf nächst dem Familiensitz der Ashertons in Cornwall. Und weite Passagen spielen in London...

Thomas Wörtche: Ah ja...?

Elizabeth George: Und es gibt eine ganze Reihe von Personen. Zum Beispiel die Schwester von St. James und ihr Freund, Lynleys Bruder Peter und dessen Freundin und sogar eine Figur, die nicht zu dieser Gesellschaft gehört. Aber es erklärt schon Lynleys Familie und deren Beziehung untereinander. Aber das ist das allererste Mal, daß wir Lynley und seine Familie agieren sehen.

Thomas Wörtche: Aber wir wissen doch aus den anderen Büchern schon über Lynleys Vater Bescheid, hören von seinem Bruder Peter, von seinem Butler, von seinen Beziehungen zu Deborah und Lady Helen, von seiner Beziehung zu St. James...

Elizabeth George: Ich glaube schon, daß es sehr interessant ist zu sehen, warum er immer Schuldgefühle hat...

Thomas Wörtche: Ja, daß das mit seinem Vater zu tun hat, das ist doch in den ersten drei Büchern von langer Hand vorbereitet und angelegt. Erfahren wir in Nummer vier des Rätsels Lösung?

Elizabeth George: Ja.

Thomas Wörtche: Demnach haben Sie also ein Konzept, das auf eine bestimmte Anzahl von Bänden hinausläuft, die die Lynley-Saga umfassen soll?

Elizabeth George: Nein. Ich weiß, was mit Lynley passieren wird und ich weiß, was mit Havers passieren wird. Aber ich weiß nicht genau, wann es passieren wird. Sehen Sie, ein paar Elemente des Plots bekommen allmählich ein Eigenleben. Besonders solche Elemente, die mit den kontinuierlichen Protagonisten zu tun haben. Mein Hauptplot ist aber immer das jeweilige Verbrechen und seine Auflösung. Aber manchmal fühle ich mich mehr zu den Schicksalen meines Standardpersonals hingezogen und dann haben sie in der Handlung viel zu wenig Zeit für ihr Privatleben. Also habe ich sie einmal konzentriert.

Thomas Wörtche: Sie kombinieren also zwei Strukturen, zwei Formeln. Die klassische Mystery-Story, sagen wir à la Agatha Christie, und die Familien-Saga...

Elizabeth George: Ach nein, was ich tue ist: Ich benutze ein Verbrechen, ein Mord, ein Schwerverbrechen, das am Ende des Buches gelöst sein muß. Und das benutze ich als Struktur. Als Ausgangspunkt. Und das bewegt die Handlung nach vorne. Und an diese Struktur kann ich soviel oder sowenig dranhängen, wie ich will. Da können Sie Subplots dranhängen, Charakterstudien, den Hauptplot, bestimmte Themen und so weiter. Und das Element "Crime" behandle ich in der klassischen britischen Tradition. Nicht mit Geballere und Geschieße - bei mir ist es der britische Krimi.

Thomas Wörtche: Und das britische Muster war auch Ihre Faszination, Ihr Zugang zum Genre überhaupt?

Elizabeth George: Ja, der britische, denkende, kombinierende Detektiv; nicht der schnell redende, brutale, hartgesottene US-Detektiv. Aber wirklich interessieren tut mich die "Psychopathologie" der Familie und ihre unendlichen Variationen. Und deswegen kommen bei mir zu dem Muster Verbrechen/Auflösung immer die familiären Implikationen. Bei Well schooled... sehen wir die Auswirkungen auf die Eltern des Opfers und was der Tod des Kindes für ihre Beziehung bedeutet. Der Killer ist auch das Produkt seines Vaters. Deswegen schaue ich mir immer die Familienverhältnisse an, wenn ein Verbrechen begangen worden ist. Daher beziehe ich meine Inspirationen, über das Verhältnis von Eltern und Kindern nachzudenken, über das Verhältnis von Ehemännern und Ehefrauen...

Thomas Wörtche: Sie interessieren sich also für die Konsequenzen eines Verbrechens auf den verschiedenen Ebenen...

Elizabeth George: Ja, aber nicht nur für die Konsequenzen von Verbrechen, sondern für die Konsequenzen von Entscheidungen, die Menschen treffen. Die Konsequenzen der Entscheidung zum Beispiel, zu heiraten, Kinder zu haben, keine Kinder zu haben, Karriere zu machen, sich um seine alten Eltern zu kümmern. Alle diese Dinge können ja direkt zum Verbrechen führen. Der Kriminalroman an sich, der interessiert mich überhaupt nicht. Als Leser nicht, als Schriftstellerin nicht. Das ist mein Privileg. Um Kriminalromane kümmere ich mich überhaupt nicht.

Thomas Wörtche: Formula Fiction interessiert sie überhaupt nicht?

Elizabeth George: Überhaupt nicht. Nein.

Thomas Wörtche: Sie würden sich selbst auch nicht als Genre-Autorin bezeichnen?

Elizabeth George: Nein, ich denke nicht. Nun ja, es gibt bei mir ein Verbrechen und das Verbrechen wird am Ende gelöst. In dem Sinne sicher. Aber wenn Sie sich einen Roman mit Action, Höhepunkt, Spannungskurven, Clues vorstellen, dann ist das natürlich eine Formel. Ich glaube, viele amorphe moderne Romane sind nicht nach einer Formel geschrieben, viele Sachbücher kommen auch ohne eine definierte Form aus.

Thomas Wörtche: Sicher, aber es gibt dann natürlich auch eine Formel für Avantgarde...

Elizabeth George: Ja, die Formel, keine Formel zu haben... Was ich mache ist wie ein Maler, der ein Bild komponiert. Das heißt, er überlegt sich, wie er ein Auge auf dem Bild herumdirigieren könnte - das bestimmt dann die Komposition.

Thomas Wörtche: Das ist ja interessant. Wenn Sie keine Genre-Literatur schreiben, sondern "realistische" Romane, dann kommt am Ende doch ein Kriminalroman heraus...

Elizabeth George: Ich glaube nicht, daß das stimmt. Sie überschätzen Kriminaliteratur. Viele Leute, die realistisch schreiben, schreiben deshalb noch keine Kriminalliteratur. Obwohl Kriminalliteratur zur Zeit sehr populär ist.

Thomas Wörtche: Ein Genre, das seine Anfänge unter ganz anderen Bedingungen hatte, eben mit Poe, mit Conan Doyle, kommt an einen Punkt, wo es nachgerade zum Paradigma für realistisches Erzählen wird? Könnten Sie dem zustimmen?

Elizabeth George: Naja, das kommt wohl daher, daß sich die Strukturen des Kriminalromans an realistisches Erzählen anlehnen. Wenn der Roman Sinn machen soll, dann ist man zu realistischem Ezählen gezwungen. In den meisten Fällen ist man zum Beispiel zu einer linearen Chronologie gezwungen - moderne Romane kümmern sich nicht darum, sie sind die Jackson-Pollock-Ausführungen des Romans. Beim Kriminalroman kann man das nicht machen, weil man nicht möchte, daß der Leser jederzeit alles weiß.

Thomas Wörtche: Machen Sie eigentlich einen sprachlichen Unterschied ziwschen Britisch und Amerikanisch? Stilistisch, grammatikalisch, lexikalisch? Das ist aus der deutschen Übersetzung überhaupt nicht zu sehen?

Elizabeth George: Sicher, die Idiomatik ist ja so verschieden. The Great Deliverance zu schreiben, war sehr anstrengend; ich brauchte sechs Fassungen, um mit dem Problem zurechtzukommen. Auch mein britischer Verleger hat mich auf einige Amerikanismen hingewiesen, die natürlich nichts in einem typisch britischen Roman zu suchen haben. Deswegen mußte ich mein ganzes amerikanisches Denken aussetzen und während des Schreibens wie eine Engländerin denken. Das heißt: eine völlig neues Vokabular, einen völlig neuen Sinn für Slang, eine neue Art, Sätze zu bauen.

Thomas Wörtche: Sie leben also in Süd-Kalifornien und schreiben über britische Themen. Was fasziniert sie so daran?

Elizabeth George: Es ist meine Wahl, einen Roman in England anzusiedeln. Dann habe ich allerdings keine Wahl mehr. Ich muß britische Probleme diskutieren, ich muß britische Landschaften nehmen, in Kalifornien hätte ich es mit Stränden und Palmen zu tun.

Thomas Wörtche: Ihre Motivation überhaupt Romane zu schreiben, hat nichts mit Themen zu tun? Über die Sie sich vielleicht aufregen? Die Sie ins Gespräch bringen wollen?

Elizabeth George: Ich rege mich über viele Dinge sehr leidenschaftlich auf. Aber ich schreibe keine Romane darüber. Wenn ich einen britischen Detektivroman schreibe, dann muß es um britische Themen gehen. Zum Beispiel Antivivisection, was in Großbritannien ein ganz außerordentliches Problem ist, anders als in den USA. Oder die ständige Angst vor der IRA oder die Hilflosigkeit der Polizei wie in Birmingham.

Thomas Wörtche: Die kalifornische Gesellschaft, in der Sie nun mal leben, halten Sie also aus Ihrer Literatur heraus?

Elizabeth George: Ja, das trenne ich streng.

Thomas Wörtche: Sie möchten also nichts aus Ihrem unmittelbaren Leben transportieren?

Elizabeth George: Ich kann ja nicht kalifornische Probleme nach England transponieren. Es mag ja die eine odere andere Sache hier und dort gleichermaßen anstehen, aber ... Ich will einen klaren, chirurgischen Schnitt zwischen meinem Leben und dem, was ich schreibe.

Thomas Wörtche: Sind Sie dann eher von den artistischen Möglichkeiten des Whodunnits affiziert? Finden Sie es faszinierend, ausgetüftelte Plots zu basteln, überraschende Wendungen, Lösungen, auf die noch niemand gekommen ist? Macht es Ihnen Spaß, mit Möglichkeiten des Genres zu spielen?

Elizabeth George: Was mich am meisten interessiert ist, über die Personen, ihre Beziehungen zu schreiben. Freude habe ich an den Twists und Wendungen des Plots, aber das ist kein Resultat von Planung. Wenn ich anfange, weiß ich noch nicht, welche Red Herrings, welche Clues meine Detektive in neue Richtung schicken. Wenn ich allerdings an einen solchen Punkt komme, dann ist es immer wunderbar und macht großen Spaß. Manchmal ist es aber auch lähmend. Ich bin einmal an einen Punkt gekommen, wo die zweite Leiche des Buches fällig war. Die hatte ich vorher festgelegt. Aber als es so weit war und Lynley den Körper finden sollte - da merkte ich, daß es so einfach nicht ging. Ich hätte das Verbrechen nie auflösen können. Also mußte jemand anderes sterben. Das war so ein Moment der Inspiration während des Schreibens. Da hat es sich gelohnt, den schwierigeren Weg zu gehen. Eine Schrifstellerin sollte unbedingt vermeiden, das zu tun, was alle von ihr erwarten. Und sobald ich merke, daß der Leser eine bestimmte Erwartung haben könnte, bewege ich mich in eine andere Richtung.

Thomas Wörtche: Sie dialogisieren also nicht mit dem Genre, indem Sie zum Beispiel eine neue Variation des locked-room-mystery anbieten oder ein closed-community-killing-Muster gegen andere setzen? Haben Sie eher einen literarischen Zugang zum Genre?

Elizabeth George: Manche Dinge mache ich, weil sie zur Tradition der britischen Mysteries gehören. Payment in Blood zum Beispiel habe ich geschrieben, um herauszubekommen, ob ich einen closed-community-killing-Plot hinkriege. Ein closed-community-killing ist sehr schwer zu schreiben. Jeder ist schon da, der Detektiv kann nur durch die Räume streifen und alle Anwesenden befragen. Aber irgendwas muß den Plot weiter vorantreiben. Das war schon eine Herausforderung für mich. Als die letzte Seite aus dem Drucker kam, war ich mir gar nicht so sicher, ob alles richtig aufgegangen war. Ich habe schon damit gerechnet, daß ich alles noch mal umschreiben kann. Ich habe dann meine Lektorin gefragt, weil es ja eine Katastrophe gewesen wäre, wenn das Buch vom Markt hätte genommen werden müssen, weil ein Detail nicht stimmte. Aber sie fand, daß dann doch alles stimmte.

Thomas Wörtche: Sind Sie eigentlich zufrieden mit der Qualität des Lektorats in den USA?

Elizabeth George: Ich habe eine wunderbare Lektorin bei Bantam. Sie ist offen für alles. Es macht ihr gar nichts aus, wenn mir ein Buch sehr lang gerät - darüber mache ich mir immer Sorgen. Sie hindert mich immer daran, zu kürzen. Sie hat auch mein neuesstes Manuskript unterstützt, in dem ich mich ganz weit von der detective-novel wegbewege. Lynley taucht auf Seite 150 zum ersten Mal auf und sie sagte, fein, wen stört's? Das ist natürlich sehr nett und sie glaubt ganz fest an meine Arbeit und mischt sich nicht groß ein.

Thomas Wörtche: Was haben Sie eigentlich vorher gemacht?

Elizabeth George: Ich war 14 Jahre lang Englisch-Lehrerin an verschiedenen öffentlichen Schulen...

Thomas Wörtche: Und dann haben Sie beschlossen, Schriftstellerin zu werden?

Elizabeth George: Ich wollte schon immer schreiben, hatte aber während meiner Lehrtätigkeit keine Zeit. Das war ein 16 Stunden-Job. 1983 kaufte ich mir einen Word Processor und als das Gerät dann rumstand sagte ich mir: OK, du kannst jetzt entweder weiterträumen, eine Schriftstellerin zu sein oder wirklich schreiben. Den ersten Roman habe ich dann in den Sommerferien 1983 geschrieben, den zweiten in den Sommerferien 1984 und so weiter. Der dritte wurde veröffentlicht.

Thomas Wörtche: Sind Sie irgendwo organisiert? Zum Beispiel bei den Sisters in Crime?

Elizabeth George: Oh nein...

Thomas Wörtche: Sie fühlen sich auch nicht als Teil dieser Bewegung von Kriminalschriftstellerinnen? Sie wollen nicht von diesem Boom profitieren, der ja immerhin hilft, Preise zu gewinnen...

Elizabeth George: Eine sehr scharfsichtige Frage. Ja, Mitglied einer solchen Gruppe zu sein, hilft sehr, Preise zu gewinnen. Aber genau das macht mir eine solche Gruppe und die entsprechenden Preise sehr, sehr fragwürdig.

Thomas Wörtche: Das führt mich zu der Frage von vorhin zurück. Ob Sie nicht auch mit Barbara Havers neue "feministische" Möglichkeiten eröffnen wollten?

Elizabeth George: Nicht daß ich nicht glaubte, Frauen könnten keine innovative Figuren im Genre erfinden. Aber darum geht es mir nicht. Ich schreibe nur das, was ich will und das, was mir Spaß macht. Barbara Havers ist die Figur, die zu schreiben mir am Leichtesten fällt. Aber ich wollte damit auf keinen Fall den britischen Kriminalroman in eine hard-boiled-Richtung drängen, nach dem Muster der amerikanischen weiblichen, feministischen Hardboiler. Das würde eh nicht gehen. Eine weibliche, britische Privatdetektivin? Ich weiß nicht... P.D. James hat so eine, glaube ich, aber ...

Thomas Wörtche: Kennen Sie Liza Cody? Der ist das durchaus gelungen ..

Elizabeth George: Oh, wirklich? Und das funktioniert? Ist sie hardboiled?

Thomas Wörtche: Ich glaube, zur Zeit heißt hardboiled einfach: Viel Blut. Ist Ihnen eigentlich "Gewalt" ein besonderes Thema?

Elizabeth George: Nein, Gewalt interessiert mich eigentlich nicht. Bei mir gibt es hin und wieder eine Gewaltszene, aber das soll natürlich nicht das ganze Buch dominieren. Gewalt in der neueren Kriminalliteratur passiert eigentlich immer zwischen Personen, die sich nicht kennen oder nicht gut kennen - die eben abstrakt der Gute und der Schlechte sind, die sich gegenseitig bekämpfen und sich gegenseitig wegblasen. Meine Personen kennen sich in der Regel sehr gut und brauchen in der Regel keine Gewalt, um ihre Probleme zu lösen. Ihre Konfrontationen entladen sich eher in Gesprächen - das schreibt sich natürlich auch schwieriger als Schießereien oder Jagden zwischen Hochhäusern und Felsen.

 

© Thomas Wörtche, 1994

 

Eine Bibliographie der Romane Elizabeth Georges finden Sie in unseren Autoren-Infos.

 

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