legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Warum "Innovation" in der Kriminalliteratur weit überschätzt ist

Von Thomas Wörtche

 

Seit einem großzügig bemessenen Jahrhundert wird gemordet und dann wird der Täter gefunden. Das ist heute noch bei einem erklecklich großen Prozentsatz aller "Krimis" der Fall. Natürlich wissen wir, dass dieses Modell nur einen Teil dessen ausmacht, was wir als Kriminalliteratur bezeichnen. Aber das ist auch immer noch der Teil, der von der breiten lesenden und fernsehenden Mehrheit als "Krimi" verstanden und konsumiert wird.

Die Frage nach dem Mörder beweist seit den Zeiten von Conan Doyle und Agatha Christie bis zum letzten Regio-Grimmi aus heutiger Produktion eine Beharrlichkeit, die Neuerungen nur anscheinend schwer zum Zuge kommen lässt. Die Eckdaten der Erzählung sind immer gleich. Wie erzählt wird kann unendlich variieren, nur muss überhaupt erzählt werden. Krimi, und an dem Punkt treffen sich alle Spielarten von Kriminalliteratur wieder, muss von etwas erzählen. Idealerweise von Realitäten oder von Konstrukten, die real sein könnten. Weil sich Realitäten aber immer wandeln, muss Kriminalliteratur immer wieder auf diesen Wandel, auf die veränderten Umstände reagieren - wie vermittelt auch immer das sein mag. Man kann zum Beispiel das gemütliche Töten und Aufklären im Golden Age (Agatha Christie & Co.) als Abwehrreaktion gegen die Gemetzel des Ersten Weltkrieges verstehen und das ganze Häkel-Konzept als Zurückweisung der Zumutungen der Moderne, in der die Welt zunehmend als kontingente und nicht mehr sinnhafte Veranstaltung begriffen wird. Oder man kann die vielen biederen Krimis aus heutiger Produktion, die Charlotte-Link-&- Co.- Romane als Konsens-Literatur einer sich satt wähnenden Mittelschicht verstehen, die mit realen Verbrechenslagen wenig zu tun haben möchten - sowie auch die Freunde von Sebastian Fitzek (»Der Augenjäger« Droemer) oder Andreas Franz (incl. dessen Nachfolger Daniel Holbe: »Todesmelodie«, Knaur) sich eher an möglichst a-realistischen Schlachteplatten und familienkompatibler Devianz ihre "kleinen Fluchten" aus dem Alltag gönnen.

Angesichts des Krimi-Booms und der ungebrochenen Quantität der Produktion - ob zur Zeit ein Drittel oder schon fast die Hälfte der Bestseller-Produktion krimi-affin ist oder nicht, ist schon fast unerheblich - muss man feststellen, dass die "Wiederkehr des Immergleichen" beeindruckende Ausmaße annimmt. Das gilt allein schon für die Paratexte - die immer gleichen Cover, die immer gleichen Klappentexte, die immer gleichen Ein-Wort- oder Fake-Bibelspruch-Titel, die immer gleichen Werbesprüche. Sie alle bedienen in ermüdender Anzahl die jeweiligen Parameter: Skandinavien, Serialkiller, Kommissar-Teams, Regionen, cozy, Katzen. Ein Blick in die aktuellen Vorschauen zeigt, was ich meine.

Aber etwas Neues, etwas Innovatives? Die Seufzer ob dieser Zustände und das Bedürfnis nach wirklich neuen Ideen, nach wirklich Aufregendem mit Rote-Ohren-Effekt werden allmählich lauter und lauter. Die Kriminalliteratur soll allmählich aus ihrer starken Marktmacht wirklich etwas machen, etwas riskieren, so wie es die Regularien des "Deutschen Krimi Preises" fordern, denen zufolge Romane ausgezeichnet werden sollen, die "literarisch gekonnt und inhaltlich originell dem Genre neue Impulse geben".

Tatsächlich "inhaltlich", nicht formal? Nur "literarisch gekonnt" nicht ästhetisch innovativ? Betrachtet man die als "innovativ" angepriesenen und dazu erklärten Bücher und Autoren der letzten Jahre und der aktuellen Programme, ergibt sich ein zwiespältiges Bild: Zsoran Drvenkars »DU« (Ullstein) - ein völlig verkorkstes, beinahe halsstarriges Erzwingen von Originalität durch eine nichtfunktionierende Perspektivik. Guido Rohms Exerzitien (»Blutschneise« Seeling, »Die Sorgen der Killer«, Kulturmaschine) sind, obwohl ein paar nette Miniaturen dabei sind, alles andere als "innovativ". Sie kaprizieren sich auf das Erzählen an sich, ohne bemerkenswerte Dinge als Erzählinhalte zu haben. Erheblich verspäteter nouveau roman à la Alain Robbe Grillet oder postmoderne Stilübungen der 1960er, 1970er Jahre. Oder im gelungeneren Falle Fred Vargas Integration des Übernatürlichen, von Sagen und Märchen und Irrationalem. Daraus entstehen hübsche, gar zauberische Gebilde, wie auch ihr letzter Roman »Die Nacht des Zorns« (Aufbau) wieder zeigt - aber innovativ ist daran nichts: Die Makrostruktur ist über zwanzig Jahre alt, sie folgt dem Generierungsprinzip der Yellowthread-Street-Romane von William Marshall (zuletzt Rotbuch), das Unmögliche, Übernatürliche erst zu behaupten und dann peu à peu in Realität zu übersetzen und als Natürliches zu plausibilisieren. Nicht die unheimlichen Reiterhorden aus der Sage morden bei Fred Vargas in der Normandie, sondern schlicht ein spät-bonapartistischer Flic. Inhaltlich originell ist nichts, der Roman tickt wie ein ganz normaler Krimi: Am Anfang stehen Morde, am Ende kennen wir den Täter; die Polizei und damit die Gerechtigkeit siegt, egal, wie schräg die Polizei geschildert wird. Um realitätstüchtige Erzählinhalte geht es nicht.

Selbst bei einem der aufregendsten Bücher der letzten Zeit, Sara Grans »Die Stadt der Toten« (Droemer) könnte man auf die Idee kommen, die Mischung aus gnadenlos genauen Blick auf die gesellschaftlichen Verheerungen, die das fiaskohafte Krisenmanagment von "Katrina" in New Orleans angerichtet hat, blanker Mythomanie, Halluzinationen und Visionäres sei letztendlich auf Jerome Charyns Isaac-Sidel-Romane (Rotbuch) zurückzuführen. Solche literarische Virtuosität, das Springen zwischen winzigem Detail und dem großen Ganzen, das Verwischen von Realitätsebenen bei gleichbleibender Wertigkeit von Traum und Klarheit für die Handlung, ist bei Gran wie bei Charyn notwendigerweise an das gekoppelt, was das Buch wirklich ausmacht: Eine bittere Abrechnung mit bösen, politischen Zuständen in ästhetischer Form. Auch das wäre, streng geschaut, nicht innovativ. Aber niemand würde bestreiten, dass »Die Stadt der Toten« ganz großartige Kriminalliteratur und deswegen auch ganz großartige Gegenwartsliteratur ist.

Ähnliches würde man für die Romane von Don Winslow (»Die Sprache des Feuers«, Suhrkamp), Peter Temple (»Tage des Bösen«, C. Bertelsmann) oder Deon Meyer (»Rote Spur«, Aufbau) behaupten können, für die von Giancarlo de Cataldos/Mimmo Rafeles (»Zeit der Wut«, Folio), für Helon Habilas »Öl auf Wasser« (Wunderhorn) oder Kettly Mars' »Wilde Zeiten« (literadukt) behaupten können - rein formal gesehen sind sie wenig innovativ. Wie sie allerdings das Erzählen und die Themen, die sie erzählen, mit einander verschränken, das ist in jedem Einzelfall meisterhaft gelungen.

Allen hier genannten Büchern und Autorinnen und Autoren gemeinsam ist, dass sie starke Geschichten von dieser Welt zu erzählen haben und sich dafür Mittel gesucht haben, die einerseits literarisch tragfähig sind, andererseits direkt mit dem Erzählten in Zusammenhang stehen: Deon Meyer benutzt in »Rote Spur« gleich drei Subgenres, um den südafrikanischen Realitäten Herr zu werden: Polit-Thriller, Abenteuerroman und Detektivroman. Peter Temple erzählt »Tage des Bösen« genauso schroff die Tonlagen wechselnd und so rätselhaft, so deutlich nicht-erklärend wie die Schattenwelten des illegalen Informationshandels sind. Helon Habilas bezieht sich konterkarierend auf Graham Greene, um den Irrsinn des nigerianischen Ölbusiness erfahrbar zu machen. Und Kettly Mars' Geschichte einer freiwilligen Schizophrenie aus Überlebenszwängen im Terrorsystem von "Papa Doc" Duvalier im Haiti der 1960er Jahre findet ihre ästhetische Entsprechung in den zersplitternden, manchmal erlöschenden, sich immer wieder dementierenden Perspektiven, aus denen dieser Psycho-Politthriller aus dem Geiste des roman noir zusammengesetzt ist.

Diese Beispiele sollten ausreichen, um den Unterschied der Ligen klarzumachen: Mechthild Borrmanns Geschichts-Aufarbeitungen (zuletzt: »Wer das Schweigen bricht«, Pendragon) oder Wolfgang Schorlaus Kommentare zur aktuellen Lage (zuletzt »Die letzte Flucht«, KiWi) unterscheiden sich natürlich von der Fake-History eines Volker Kutschers (zuletzt »Goldstein«, KiWi) oder den Bergen von regionalen Belanglosigkeiten, sind aber dennoch letztendlich biedere Versuche, ein Thema einfach zu erzählen. Wobei aber selbst dieses "einfache Erzählen" letztendlich mehr überzeugt, als die sich bewusst "literarisch" stilisierenden Versuche - die es national und international zu Hauf gibt. Weder Georg M. Oswalds »Unter Feinden« (Piper) noch das herrenreiterhafte »Der Fall Collini« (Piper) von Ferdinand v. Schirach können über die Pose des entweder nur Ausgedachten oder des Nur-Banalen hinwegtäuschen. Auch hinter der in eher ungeformter Plauderprosa daherkommenden Groß-Ekel-Revue (für alle Freunde der Nekrophilie, der Zoonekrophilie, der Koprophagie und anderer einlässlich detailliert beschriebener Würgreiz-Nummern wie das minutiös geschilderte Zerstören eines Mädchens mit einem Schlagbohrer - so viel Snuff war nie) »Highlife« von Matthew Stokoe (Arche) verbirgt sich nichts anderes als ein simpler Spät-Hollywood-Noir in der Nachfolge von Nathaniel West, der dafür aber nichts kann. Ein Mann will Filmstar werden, geht buchstäblich über Leichen und wird Werbeikone für Herrenkosmetika, allerdings ohne satirische oder sonst wie komische Brechungen. Neu ist dabei höchstens der Ekel-Faktor, aber der ist, erinnern wir uns an den guten Marquis de Sade und seine »120 Tage von Sodom« so innovativ dann auch wieder nicht.

Aber vielleicht ist "Innovation" auch der völlig falsche Ansatz. Sinn ergibt der Begriff sowieso nur in einem evolutionären (resp. revolutionären) Konzept von Literatur, die sich - quasi organisch - irgendwohin entwickelt. Aber wohin?

Selbst dann wüssten wir nicht, wo wir gedachte Innovation suchen sollten. Neue literarische Verfahren? Unwahrscheinlich, nachdem die Moderne alle bekannten Verfahren de-konstruiert hat und die Postmoderne sie (ironisch und zitathaft) neu arrangiert hat und man sie inzwischen einfach benutzen kann wie ein Kind den Baukasten.

Neue Formen? Unwahrscheinlich, weil Kriminalliteratur keine "Form" ist. Nicht einmal der Detektivroman ist eine "Form" wie ein Sonett, sondern nur eine statistische Häufung bei der Anordnung von Plot-Elementen. Wer tötet wen warum, das kann man in allen Varianten, die die Erzählforschung hergibt, erzählen. Rückwärts, vorwärts, auktorial, personal, perspektiv-wechselnd, sogar gemäßigt autoreflexiv - man muss nur erzählen. Ohne Erzählen gibt es keine Kriminalliteratur, das unterscheidet sie von Lyrik und anderen Formen literarischer Organisation. Alles andere ist Metapher: Das Leben, die Welt oder was auch immer ist kein Kriminalroman. Ein Kriminalroman erzählt die Welt. Und wenn er das unoriginell tut, dann handelt es sich um überflüssige Kriminalliteratur. Oder wenn er vermutet, dies zu können sei naiv, weil sich "die Realität" nicht erzählen lasse, dann ist das wahrhaft naiv, weil sich alles Erzählen mit Realität herumbalgen muss. Selbst dann, wenn die Narration es vermeiden möchte, Realität zu erzählen, muss sie wissen, welche Aspekte von Realität sie vermeidet.

Der Seufzer wegen mangelnder Innovation war, so glaube ich wenigstens, dem Setback nach der letzten großen ästhetischen Blütezeit der Kriminalliteratur geschuldet. Auf die Hochzeiten der Generation von Jerome Charyn, Derek Raymond, William Marshall, Andreu Martín, Jerry Oster, Pieke Biermann, Paco Ignacio Taibo II, Joseph Wambaugh, Rubem Fonseca, Lawrence Block, Bill James. Liza Cody, Helen Zahavi etc. folgten die bedeutend un-artistischeren, simpleren (so wohl literarisch als auch erkenntnis-theoretisch) Donna Leons, Elisabeth Georges und Henning Mankells. Sie waren, cum grano salis, die letztendlich kommerziell erfolgreicheren und auch bei einem Großteil des Publikums beliebteren. Und natürlich gilt, gerade bei subventionsfreier, direkt auf den Markt bezogener Literatur wie der Kriminalliteratur: Success gives birth to the formula. Aber auch diese Heroen haben sich erledigt, eine noch schlichtere Variante steht auf den Bestsellerlisten, die Schenkelklatsch-Grimmis von Rita Falk (»Schweinskopf al dente« dtv) & Co., sehr deutsche (oder österreichische) Produkte, die so sicher wieder verschwinden werden wie das Amen in der Kirche und keine internationale Nachhaltigkeit erleben werden.

Die spannenden Ideen, so hat es den Anschein, sind in andere Erzählformen ausgewichen: »The Wire«, »The Shield«, »Kommissarin Lund«, »Misfits« etc. - die ganzen avancierten TV-Serien-Formate erzählen nach unserem Gefühl überraschender, schneller, weniger naiv, ausgekochter, wagemutiger und riskanter als ein Großteil der literarischen Produktion. Crime Fiction war schon immer ein transmediales Ereignis, die gegenseitigen Beeinflussungen sind Legion. Dennoch kann und darf man Literatur gar nicht vorwerfen, dass sie nicht so ist, wie eine TV-Serie, ein Computerspiel, gar interaktiv mit Bespaßungs-Faktor. Die eher albernen Experimente wie »Level 26. Dunkle Prophezeiung« (und so) von Anthony Zuiker (Bastei), die aus dem Genre ganz im Sinne einer nur noch kommerziell tickenden Verwertungsindustrie (auch dieser Topos wäre äußerst revisionsbedürftig) reine Fun-Produkte machen, zeigen das in beispielhafter Klarheit. Gerade dann, wenn sich solche Metzel-Schwarten als "medienkritisch" gebärden wie Veit Etzolds »Final Cut« (Bastei), aber doch nur dem Hausmarketingkonzept von noch mehr Blut, Hack, Schlitz und Pfui-Bääh folgt.

Literatur kann nicht so arbeiten wie audiovisuelle Medien, sie würde ihren Wesensvorteil verspielen (Film und Fernsehen denken ja auch nicht daran, so zu verfahren wie Literatur - einen Austausch von Ideen, Motiven, Denkfiguren etc. schließt das gerade nicht aus).

Vermutlich ist das, was man in der Kriminalliteratur als Innovationsstau beobachten möchte, etwas ganz anderes: Die Überflutung mit dem Immergleichen, gepaart mit der momentanen Nervosität der Verlagslandschaft und ihrer mangelnden Risikobereitschaft. Und vermutlich schaut man nach Gruppierungen und Trends und gemeinsamen Nennern in der nicht-normierten Szenerie. Aber die ist dann doch erheblich breiter und variabler: Exzellenter Pulp von Christa Faust (»Die Rachegöttin«, Rotbuch), Solitaire, der sortierenden Beschreibung sich eher entziehende Projekte wie die von Christine Lehmann (»Totensteige«, Ariadne), Uta-Maria Heim (»Feierabend«, Gmeiner) oder Fran Ray (»Das Syndikat«, Bastei) seltsame Mischungen wie die von Carsten Strouds »Niceville« (DuMont) oder außerhalb der wenig innovativen Wahrnehmungsraster von Nur-Krimi-Fans liegenden Büchern wie »Herr der Krähen« von Ngugi wa Thiong'o (A1).

Weltliterarisch gesehen oder nach irgendwelchen gattungstheoretischen und - geschichtlichen Maßstäben gesehen, ist das alles wenig "innovativ", aber höchst gelungen. Was eigentlich nur heißt, dass Innovation per se kein absoluter Wert ist, aber Innovationsrhetorik zum Blendhandwerk von Marketing einerseits und von jedem sich unverstandenen wähnenden Hobby-Schreiberling andererseits gehört.

Kriminalliteratur erzählt immer noch und unaufhörlich von einer sich ständig verändernden und umbauenden Welt, ist ein universeller Code und deswegen im permanenten Umbruch. Good news!

 

© Thomas Wörtche, 2012
(Buchkultur, Krimi Spezial, Juni 2012)

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen