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Cream of Crime 7/1994

Lionel Davidson: Der Rabe

 

Einem beliebten falschen Konsens zufolge sind nach dem Fall der Mauer keine Polit-Thriller mehr möglich, obwohl doch Autoren wie Julian Rathbone, Ross Thomas oder Gavin Lyall schon vor dieser Zäsur hinlänglich bewiesen haben, daß selbst für die am klarsten definierte Spielart des Polit-Thrillers, den Spionageroman, der Kalte Krieg keineswegs unabdingbar war. Lionel Davidsons Roman "Der Rabe" torpediert programmatisch solche Konsense. Wenn bei ihm ein amerikanischer Spion unterwegs ist, russische Geheimnisse im kältesten Sibirien zu lüften, dann hat diese Grundkonstellation deutlich parodistische Absicht; das Ziel der Spionierei interessiert keinen Menschen. Denn in dem Roman, der eine atemberaubende Mischung aus Spionage- und Abenteurroman ist (und so in der Tradition von John Buchan, Eric Ambler, Graham Greene und Stephen Becker stehen will), geht es um etwas ganz anderes: Um die allmählich immer deutlicher werdende Irrelevanz des Typus "weißer, europäischer Intellektueller" von dem sich die o.a. Autoren noch skeptisch Heil und Rettung erhofft hatten.

Der Held bei Davidson ist ein kanadischer Indianer namens Johnny Porter. Er kann in Rußlands 'Hinterhof' Sibirien (angesichts dessen realer Resourcen enttarnt Davidson diese Einschätzung als zutiefst ignorant) erfolgreich spionieren, weil die verschiedenen Ethnien dort den Rassismus der weißen (russischen) Hierarchie mit List, Cleverness und Häme gegen diese wenden. Der Rassismus richtet sich gegen seine Verursacher. Das rasante Finale, als Verfolgungsjagd übers Eis mit dem ganzen Können eines großen Erzählers inszeniert, zeigt gerade wegen seiner Künstlichkeit genau diesen Umschlag. Die Sieger werden diesmal andere sein. Der russische Abwehr-General ist zwar kompetent und hochintelligent, aber er denkt in klassischen Rastern. Er hätte es nur beinahe geschafft. Johnny Porter ist besser.

Daß man diese Bedeutungsebene des Buches nicht als Klischee vom instinktgetriebenen 'Wilden' wider die 'Zivilisation' auslegen kann, macht Davidson unmißverständlich deutlich: Ewenken, Tschuktschen und Jukagiren, die sich gegen Stalinismus und Poststalinismus völlige de-facto-Autonomie geschaffen haben, sind Handlungsträger. Der Konflikt zwischen Japanern und Koreanern ist kein Nebenschauplatz. Die Geographie, Soziologie und Psychologie Sibiriens müssen die Protagonisten so sicher beherrschen wie weiland Barkeeper den Wodka-Martini-Becher von James Bond. Solche Vorgänge, Gegenbenheiten und Zusammenhänge entscheiden über Tod oder Leben. Ein Professor in Oxford, einst klassischer Ausgangspunkt ungezählter realer und fiktiver Spionagegeschichten, hier nur fröhliche Fußnote, ist da schlicht ahnungslos.

"Der Rabe" ist deswegen ein so bedeutendes Buch, weil Davidson all diese hochspannenden Implikationen nicht zu einer politisch, womöglich korrekten Fahne ausrollt. Er montiert sie als Sprengsätze in das Gerüst eines Thrillers, das er klugerweise unangetastet läßt. Paradoxerweise gibt genau das dem begnadeten Jongleur Freiräume für traumhafte Equilibrismen. Die Deduktionen etwa, die am Anfang enthüllen, wie wer von woher eine verschlüsselte Nachricht nach England geschickt hat, gehören zu den absoluten Highlights des Genres. Mehr noch, sie sind Beispiele dafür, wie scharfsinnig und hochintelligent Literatur sein kann, ohne sich auch nur eine Sekunde lang vom Publikum zu entfernen. Im Gegenteil: Davidson nutzt virtuos alle kommunikativen Potentiale, die geeignet sind, selbst abgebrühte Leser durch die Seiten zu peitschen. Und eben weil er das Bedürfnis seiner Leser, auf hohem Niveau unterhalten zu werden, ernst nimmt, ist "Der Rabe" viel mehr als ein sogenannter 'Unterhaltungsroman'.

© Thomas Wörtche

 

Lionel Davidson:
Der Rabe
(Kolymsky Heights, 1994).
Roman. Deutsch von Walter
Ahlers und Christian Spiel.
München: Goldmann Verlag 1996
(Berlin: Volk und Welt, 1994.)
478 Seiten, DM 17,00

Der Rabe

 

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