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Cream of Crime 6/1994

Lawrence Block: Endstation Friedhof

 

Es gibt vermutlich keine theoretisch hieb- und stichfeste Herleitung, warum der Privatdetektivroman nach den hergebrachten Mustern von Chandmett bis Robert B. Parker, Lyons oder Estleman und den diversen "feministischen" Varianten nicht mehr so recht funktioniert. Man kann jedoch mit Fug vermuten, daß die ästhetische Verkümmerung dieser einstmals sicher populärsten Variante der Kriminalliteratur zu tun hat mit dem Ungenügen an monoperspektivischem Erzählen der Unmöglichkeit, Komplexität durch eine Figur ästhetisch gefiltert in den Griff zu bekommen. Und es gibt die schlichte Beobachtung, daß Autoren wie Stephen Greenleaf oder James Crumley erstarrt sind, andere wie Lyons, Parker oder Estleman sich ins Abseits geschrieben haben und die "neuen" Frauen Sue Grafton, Sara Paretsky oder Marcia Muller deutlich lustlos an den Fesseln ihrer Verträge rütteln, wohl ahnend, daß ihre literarischen Konzepte inzwischen repetitiv geworden sind. Die Innovationsschübe der letzten Jahren kamen deutlich von der logischerweise multiperspektivischen Cop-Novel oder von Autoren und Autorinnen, deren Bücher sich jeder Kategorisierung entziehen. (Überhaupt keine Rolle in aestheticis haben, nebenbei bemerkt, das courtroom-drama à la Turow, Grisham etc. und die Serial-Killer-, bzw. True-Crime-Wellen gespielt.)

Ein Grund für die Selbstmarginalisierung des Privatdetektivromans mag zudem sein, daß er seit Chandmetts Zeiten (mit wenigen Ausnahmen von Latimer bis J.W. Rider, Robert W. Campbell, Andreu Martín, Pedro Casals) ein Vehikel für Sozialkritik war - einer zunächst plausiblen und ästhetisch gestützten, dann zunehmend literarisch dürren, lediglich moralisierenden, ideologisch zubetonierten Sozialkritik, wie sie am lächerlichsten vom "Soziokrimi" weltweit betrieben wird.

Lawrence Blocks Roman "Endstation" jedoch, wie alle seine Bücher um den nichtlizensierten Privatdetektiv Matt Scudder, ist eine PI-Novel, die funktioniert, sogar prächtig. Das liegt unter anderem daran, daß Block mit von Buch zu Buch zunehmender Radikalität jenes erwähnte Prinzip der "Sozialkritik" getilgt und auch nicht etwa durch ein Konzept der "Amoralität" ersetzt hat. Statt dessen forciert er den genauen Blick, der Wahrnehmungsraster erst einmal ignoriert. Daraus entstehen beunruhigende Konstellationen: Matt Scudders bester Freund ist ein Killer, der mit abgeschlagenen Köpfen durch die Gegend läuft; sein Klient in "Endstation" ist ein melancholischer Großdealer; sein soziales Umfeld besteht ganz selbstverständlich aus kunstsinnigen Zuhältern, virtuosen Hackern, relativ unkorrupten Bullen. Scudder lebt problemlos mit einer Hure zusammen (und wenn die in diesem Buch beschließt aufzuhören, dann nicht, weil aus ihrem Job ein Beziehungsproblem entstanden wäre), und hilft einem russischen Mafioso, dessen Tochter gekidnappt worden ist. Kurz: Block stellt alle Ordnungsmuster auf den Kopf (wo die Welt 149 Jahre nach Marx steht) und macht aus "Moral" keinen staatstragenden Grundbegriff, sondern löst sie auf in eine Vielfalt von Handlungsoptionen, für die nur das jeweilige Individuum verantwortlich ist - mit allen Konsequenzen allerdings, auch mit dem Risiko des eigenen Todes.

Matt Scudder ist insofern nicht mehr die Wertungsperspektive auf die Welt, sondern ein Individuum unter anderen, für das die o.a. Handlungsoptionen genau so konsequent gelten. Das meisterhaft beschriebene New York ist dann auch nicht mehr nur ein exzeptioneller Ort, sondern Überall. Literatur, wie Block sie betreibt, hat die Potenz, gesellschaftliche Entwicklungen vorauszuahnen und vorzuformulieren: wegen der ästhetischen Möglichkeiten, die nur in narrativen Formen stecken.

© Thomas Wörtche

Lawrence Block:
Endstation Friedhof.
(A Walk Along The Tombstones, 1992)
Roman. Deutsch von Sepp Leeb.
München 1994: Haffmans bei Heyne
361 Seiten, DM 14.90

 

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