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Wellen, lang & träge...

Eine kriminalliterarische Momentaufnahme

Von Thomas Wörtche

 

Erstaunlich immer wieder, wie viel und was man alles nicht weiß. Wir wissen zwar, dass Krimis und Krimiartige je nach Einschätzungsinteresse zwischen einem Drittel und der Hälfte des gesamten Buchmarktes ausmachen. Und nicht nur in den drei deutschsprachigen Ländern plus Südtirol und Luxemburg, auch für das United Kingdom zum Beispiel gelten diese ziemlich erstaunlichen Zahlen. Wer aber diese vielen, vielen Menschen sind, die sich unverdrossen emsig durch diese Berge von Krimis, Thrillern und Mysteries fressen wie durch die Griesbreimauer ums Schlaraffenland, das wissen wir nicht. Jede mir bekannte Statistik widerspricht dem evidenten Augenschein des Publikums, dem man bei Lesungen, Events, Festivals und anderen Belustigungen der kriminalliterarischen Art begegnet. Diesem Augenschein zufolge interessieren sich so ziemlich alle Leute aller sozialen und gendermässigen Sortierungen für Kriminalliteratur und geben das inzwischen auch noch öffentlich zu. Ob sie Kriminalromane wirklich lesen, weiß man nicht so genau. Was man aber weiß: Manchen Leuten geht die Allgegenwart von Kriminalliteratur, Krimi-Serie, Krimi-Event und Grimmifidelwipp gehörig auf den Nerv. Das kann man nun fast wieder verstehen, weil das, was hinter jeder, aber auch jeder medialen Hecke hervorspringt, tatsächlich tierisch nerven kann. Das gilt für Blasmusik genauso wie für Krimis.

Grundsätzlich aber sollte die Situation den Freund von Krimis und Krimiartigem freuen - seine Lieblingsliteratur endlich flächendeckend durchgesetzt, beliebt, zwar nicht unbedingt von jedermann geschätzt, und in jeder monetären und qualitativen Preisklasse erhältlich. Als Schrott, als unbedarften Unfug, als Standardware, als literarisches Edeltalmi und sogar als richtig gute Kriminalliteratur.

Alles ist abgedeckt, jeder Kontinent, jede In-Region, jede deutsche Fachwerkstadt, jeder Lifestyle-Aspekt, jede "Verständigungsgruppe", jedes Verbrechensfeld, jede Schlachtemethode, jede Devianz, alle möglichen und unmöglichen Ermittlertypen, einschließlich Tieren und Stofftieren. Multimedial sowieso, ob das Sqweegeli von CSI-Erfinder Anthony A. Zuiker sich in seinem drolligen Ganzkörperkondom durch "Level 26" (Bastei) metzelnd murkelt oder ob Comics und Computerspiele und Filme wie Guy Ritchies grandiose Sherlock-Holmes-Rekonstruktion - all das ist im "kriminalliterarischen Diskurs" längst integral.

Spätestens seit selbst theologische Symposien wie neulich in Basel ("Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur" - 30./31.10.2009) darüber nachdenken, ob denn auch Kriminalliteratur an der zunehmend Säkularisierung der westlichen Welt als eine Art "Ersatzreligion" teilhaben könnten, oder ob das angebliche Telos von Kriminalliteratur, nämlich die momentane Wiederherstellung von Ordnung in einer durchgeknallten Welt, wenigstens als Utopie zu behaupten, nicht auch als quasi-spiritueller Sinnstifter in Zeiten der Respiritualisierung brauchbar sein könnte - spätestens also, wenn die letzten Dinge Einzug in die Bezirke des einst als ultratrivial Gebrandmarkten halten, dann ist klar, dass Kriminalliteratur "durch" ist.

Komischerweise werden Dinge, die "durch" sind, also Teil des ganz normalen "Betriebs" geworden sind, ein bißchen weniger aufregend, ein bißchen weniger spannend, ein bißchen routinierter. Das ist nichts Originelles, die Geschichte aller Avantgarden, aller Pop-Art, aller vormals radikalen Künste beweist es immer wieder. "Der Betrieb", wer oder was auch immer das genau sein mag, umarmt alles, was nicht schnell genug auf die Bäume kommt. Wer lauthals schreiend verkündet, Opposition, gar Fundamentaloppostion zu sein, verschwindet umso schneller, je deutlicher dieses Geschreie recht eigentlich nur darauf zielt, so schnell wie möglich umarmt und integriert zu werden. So geschehen mit einer Reihe von "Krimibloggern", die mit so apartem Unfug wie dem Krakeelen nach einer ominösen "Krimikultur" o.ä. meinten, aus der Belanglosigkeit zu entkommen, in der sie nun endgültig verschwunden und versunken sind. Schon bös, "der Betrieb"... Dabei könnte doch bloggen, wenn es außer hauen & stechen, pöbeln & gröhlen auch noch ein paar neue Gedanken zu bieten hätte und wirklich informierte, nicht nur zusammenphantasierte und redundante kritische Begleitung der Szene wäre, durchaus schön und reizvoll sein.

Auch nicht so wirklich funktioniert meistens der Versuch, als Kleinverlag dringend auch an der Krimiwelle teilhaben zu wollen... Warum nette, kleine Häuser wie Conte aus dem Saarland plötzlich eher amateurhafte Kriminalromane verlegen oder etwa deutlich nicht die Kompetenz haben, eine Klassiker-Ausgabe wie die von Jean Amila professionell zu stemmen, was nicht nur das Buchdesign, sondern auch Übersetzung, Lektorat und publizistische Begleitung angeht - man kann nur rätseln. Kleine Nebenbemerkung für noch mehr Kleinverlage: Es wimmelt in der Literaturgeschichte des Genres nur so von Klassikern aus allen möglichen Kulturen, die man alle heben, schlecht übersetzen, ahnungslos edieren und dann in drei- bis niedervierstelligen Zahlen zu verkaufen versuchen kann.

Auch wäre ohne die Normalwerdung des Krimis im literarischen Betrieb kein Mensch auf die Idee gekommen, literaturhistorisch marginal interessante, eher zopfige Schwarten aus dem 19. Jahrhundert, die nicht die geringsten produktionästhetischen Folgen gezeitigt haben und die heute und mit Recht nun wirklich kein Mensch mehr lesen will, sogar zu einer Reihe zusammenzufassen, wie es die Edition Köln ("Criminalbibliothek 1850-1933") unter recht bemerkenswertem Ausschluss von Öffentlichkeit tut. Allerdings, und das sind die good news, steckt heute "der Markt" solche Ausreisser nach unten gut weg, ohne dass gleich schlechte Stimmung für das ganze Genre entstünde, wie das noch vor einem Jahrzehnt geschehen wäre.

Auch die "Exotenwelle" ist letztendlich ausrechenbar, sie tritt gerade als kleine "Südafrikawelle" auf: Die Fußballweltmeisterschaft am Kap immerhin erlaubt einen Einblick in die Kriminalliteratur des Landes, die verspricht, weit über das hinauszugehen, was wir von Deon Meyer schon kannten. Unbekannte Namen wie Andrew Brown (»Schlaf ein, mein Kind«, btb) oder Malla Nunn (»Ein schöner Ort zum Sterben«, Rütten & Loening) tauchten mit exzellenten Büchern auf, selbst Gegenden wie Liberia in einem schönen Roman von Vamba Sherif (»Geheimauftrag in Wologizi«, Peter Hammer) rückten in diesem Sog zumindest kurz in den Fokus der Aufmerksamkeit. So etwas ist immer gut, die Bücher sind zumindest da, die Namen werden gehandelt. Abgeräumt allerdings haben dann die Autoren, die die Grobreize am besten zu bedienen verstehen, die Südafrika als ein besonders sensationell verkommenes Land mit hohem (touristischen) Angstlust-Faktor machen können: Drogen, Slums, Warlords, blutige Rituale, Breitleinwandgemetzel. Das funktioniert besonders prächtig und internationale verkäuflich dann, wenn sehr professionelle Schriftsteller wie Roger Smith (»Kap der Finsterniss«, »Blutiges Erwachen«, Tropen) oder Richard Kunzmann (»Blutige Ernte«, Knaur) besonders begabt und kalkuliert alle Mechanismen von Thrill & Suspense zu bedienen wissen.

Interessant wird auf jeden Fall sein, ob das Thema Afrika nach der WM abgehakt sein wird oder nicht - das Vordringen der deutschen Mannschaft ins Finale oder das Ausscheiden nach dem Achtelfinale wird auf jeden Fall Einfluss auf den Buchmarkt haben. Womit mal wieder alles mit allem auf diesem Planeten zusammenhängt...

Nur ein kleines Wellchen für Kriminalliteratur wird vermutlich das Frankfurter Buchmessengastland Argentinien erzeugen können: Autoren wie Antonio Dal Masetto, Pablo de Santis, Claudia Piñeiro, Raul Argemi etc. sind präsent, solche wie Ernesto Mallo («Die Tote von der Plaza Once«, Aufbau) etc. sind deutlich nur als Buchmessen-Tribute überhaupt vermittelbar und ob z.B. Mexiko sich über das Großthema "Lateinamerika" mit verkaufen lassen wird, zumal von Elmer Mendoza (Suhrkamp) und anderen etwa nun auch keine ganz grossen Meisterwerke kommen werden, kann man nur skeptisch abwarten.

Geniestreiche sind in den langen, behäbigen Dünungswellen aber auch gar nicht zu erwarten. Die Fragmentierung des Krimis hat stattgefunden: es gibt a) den üblichen Regionalschrott, (an dem zunehmend auch Häuser mit einer gewissen Reputation wie Piper und Rowohlt beteiligt sind, die den üblichen kleineren Verdächtigen von Nord bis Süd, von Leda bis Ars Vivendi, sozusagen, noch nicht mal mehr die Absturztitel gönnen), b) den unerheblichen, aber verkäuflichen Kram à la Sebastian Fitzek, Andreas Franz oder die Heerscharen sinnloser Historienschmöker à la Volker Kutscher und dergleichen. Dazu c) die ausgereizten big names der Vergangenheit, die teils katastrophale Bücher wie Henning Mankell mit seinem letzten Wallander (»Der Schatten des Feindes«, Zsolnay) oder gelangweilte Routine wie Ian Rankin mit seinem neuen Ermittler namens Malcolm Fox (»Ein reines Gewissen«, Manhattan) abgeliefert haben. Und d) die "jungen Wilden" wie Charlie Huston, Jim Butcher und Co., die sich hauptsächlich in den Grenzbereichen der Genres tummeln, oft nahe beim Horror. Aus diesen Segmenten, das kann man vermutlich behaupten, wird der große innovativen Schlag auch nicht kommen.

Allerdings, und auch das ist ein positiver Aspekt der langen Dünung: Eine Menge guter, bis sehr guter Autoren sind im Moment auf deutsch erhältlich und stabil präsent: Nicht nur Klassiker wie Robert B. Parker bei Pendragon oder Donald Westlake alias Richard Stark bei Zsolnay und Elmore Leonard bei Eichborn, auch Leute Don Winslow und Adrian McKinty (bei Suhrkamp), Olen Steinhauer bei Heyne, Carol O'Connell bei btb, D.B. Blettenberg mit seinem kapitalen neuen Roman »Murnaus Vermächtnis« bei Dumont, Paco Ignacio Taibo II bei der Assoziation A, Jim Nisbet bei Pulpmaster und andere erstklassige Autoren bieten für den, der wirklich gute Kriminalliteratur lesen will, jede Menge besten Stoff.

Klar vorhanden ist weiterhin das Schisma: Auseinandergefallen ist nicht nur die Leserschaft, bei der man schon fast davon ausgehen kann, dass kaum jemand Andreas Franz und gleichzeitig Josh Bazell (eine ganz brillante Neuentdeckung der Saison, mit seinem Buch »Schneller als der Tod«, S. Fischer!) mit einem gewissen Verständnis lesen und gutfinden kann. Zwar haben sich glücklicherweise die E/U-Grenzen weiterhin vermischt, weshalb plötzlich ein grandioser Autor wie Nelson DeMille glücklicherweise nicht mehr als Verfasser von dickleibigen Schwarten für den Strandkorb wahrgenommen wird, aber die beidseitigen Barrieren sind geblieben. Auf Produzenten- wie auf Rezipientenseite gleichermaßen. Vermutlich wird man Literati wie Silvia Bovenschen oder Denis Johnson nicht klar verständlich machen können, warum sie mit ihren Romanen (»Wer weiß was: Eine deutliche Mordgeschichte«, S. Fischer resp. »Keine Bewegung«, Rowohlt) weder Parodien von Kriminalromanen noch originäre Kriminalromane sui generis geschrieben haben, sondern sich lediglich auf die Wellen zu setzen versucht haben, die sie dann aber flugs unter sich begraben. Und den Fans von Tess Gerritsen wird man nicht erklären können, warum ihr Liebling einfach bescheuertes Zeug schreibt. Aber diese beiden Kreise haben kaum Schnittmengen und sowieso keinen gemeinsamen Text.

Ähnlich langsam dünend die Verhältnisse in der Kritik resp. Sekundärbearbeitung. Mit einer Mogelpackung wie Jochen Schmidts desaströsem Konvolut »Gangster, Opfer, Detektive« (KBV) wird man, selbst für rund 40 Euro (!!!), keine Werbung für Sekundärliteratur machen. Krimi-Magazine im Printbereich - so charmant sie wie das neue Print-Magazin des online-Portals »Alligatorpapiere« auch sein mögen -, bleiben genauso im Fandom-Bereich, der nach wie vor Säule und Unglück aller Genre-Literatur bleibt. Da ist die Dünungswelle anscheinend unendlich lang. Institute wie die KrimiWelt-Bestenliste, Krimi-Preise und diverse Rankings können die Aufmerksamkeit von Multiplikatoren auf qualitativ einigermaßen abgesicherte Bücher lenken. Das ist gut und sinnvoll. Massenverkäuflichkeit jedoch lässt sich auf literaturkritischen Wegen allerdings kaum herstellen. Das Durchschnittsniveau von "Krimi-Kritik" (print oder online, da gibt's kaum Unterschiede) ist immer noch genauso peinlich und marginal, wie es immer war (wer will, der darf, sonst macht's der Volontär), allerdings bildet sich allmählich schon ein etwas breiterer Kern von Leuten, die kompetent über das Genre schreiben können. Da geht's dann doch vorsichtig bergauf.

Aber so ist es: Früher war auch nicht alles gut! Und heute ist Kriminalliteratur einfach nichts mehr, für das man offensiv kämpfen müsste. Für schlechte Kriminalliteratur zu kämpfen, wäre auch völlig blödsinnig, also schauen wir fröhlich, was hinter dem nächsten Wellental verborgen sein mag. Wenn ich mir was wünschen dürfte: Weniger Blödelkram, intelligente Polit-Thriller und eine kompentente Leserschaft (denn dass es die gibt, das wissen wir genau!), die den ganzen Wahnsinn dieser Welt als gefährlich-giftiges, wunderbares Spielmaterial betrachtet.

 

© Thomas Wörtche, 2010
(Buchkultur
Krimi Spezial
Sommer 2010
)

 

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