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Nicci French: Ein sicheres Haus

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

1. Kapitel

Ein sicheres Haus Mit der Tür fing es an. Die Tür war geöffnet. Sonst stand die Haustür nie offen, nicht einmal bei der wunderbaren Hitze im vorigen Sommer, die sie so an zu Hause erinnert hatte; aber da war sie, leicht nach innen geöffnet, und das an einem so kalten Morgen, daß die in der Luft hängende Feuchtigkeit Mrs. Ferrer in die pockennarbigen Wangen stach. Sie drückte ihre behandschuhte Hand gegen das weißlackierte Türblatt und prüfte nach, was ihre Augen ihr sagten.
      »Mrs. Mackenzie?«
      Stille. Mrs. Ferrer rief noch einmal nach ihrer Arbeitgeberin, lauter diesmal. Als ihre Worte in der großen Eingangshalle widerhallten, war es ihr peinlich. Sie trat ins Haus und streifte ihre Schuhe dabei gründlich an der Fußmatte ab; das tat sie immer. Sie zog die Handschuhe aus und hielt sie in der linken Hand. Jetzt nahm sie einen Geruch wahr. Schwer und süßlich. Er erinnerte sie an etwas. So roch es auf dem Hof vor einer Scheune. Nein. Drinnen. In einer Scheune vielleicht.
      Jeden Morgen um Punkt halb neun sagte Mrs. Ferrer Mrs. Mackenzie mit einem Nicken guten Morgen, ging geräuschvoll an ihr vorbei, über das blankgebohnerte Parkett der Eingangsdiele, nahm die Treppe gleich rechts in den Keller, zog ihren Mantel aus, holte den Staubsauger aus dem Geräteraum und verbrachte eine Stunde mit dessen ohrenbetäubendem Lärm. Die große Treppe auf der Vorderseite des Hauses hinauf, durch die Flure im ersten Stock, die Flure im zweiten Stock, dann über die kleine Hintertreppe wieder hinunter. Aber wo war Mrs. Mackenzie? In ihrem fest zugeknöpften, haferschleimfarbenen Tweedmantel stand Mrs. Ferrer unsicher an der Tür und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie konnte einen Fernsehapparat hören. Der Fernseher lief sonst nie. Sorgfältig streifte sie die Sohlen beider Schuhe an der Matte ab. Sie sah nach unten. Hatte sie das nicht eben schon getan?
      »Mrs. Mackenzie?«
      Sie trat von der Matte auf das harte Holz - Bienenwachs, Weinessig und Paraffin. Sie ging hinüber zum vorderen Zimmer, das nie zu irgend etwas benutzt wurde und kaum gesaugt werden mußte, obwohl sie es trotzdem tat. Natürlich war niemand darin. Alle Vorhänge waren zugezogen, das Licht brannte. Sie ging hinüber zum Fuß der Treppe und zum zweiten vorderen Zimmer. Sie legte die Hand auf den Treppenpfosten, der von einer ornamentreichen Schnitzerei aus dunklem Holz gekrönt wurde, die aussah wie eine Ananas mit Schnabel. Afrormosia, ein Tropenholz - Leinöl brauchte man dafür, abgekocht, nicht roh. Niemand da. Sie wußte, daß der Fernseher im Wohnzimmer stand. Sie trat einen Schritt vor, ihre Hand streifte die Wand, als wollte sie sich abstützen. Ein Bücherschrank. Ledergebundene Bände, die Lanolin und Klauenfett benötigten, zu gleichen Teilen. Es war möglich, überlegte sie, daß, wer immer da fernsah, ihren Ruf nicht gehört hatte. Und was die Tür betraf - vielleicht wurde etwas geliefert, oder der Fensterputzer hatte sie beim Hereinkommen offengelassen. So beruhigt, ging sie zur Rückseite des Hauses und in das Hauptwohnzimmer. Sehr schnell, binnen weniger Sekunden nach dem Betreten des Raums, hatte sie sich heftig auf den Teppich übergeben, den sie seit achtzehn Monaten an jedem Werktag gestaubsaugt hatte.
      Sie stand vorgebeugt, mit gesenktem Oberkörper, und keuchte. Sie suchte in ihrer Manteltasche herum, fand ein Papiertaschentuch und wischte sich den Mund ab. Sie war über sich selbst überrascht, fast verlegen. Als Kind war sie einmal von ihrem Onkel durch ein Schlachthaus außerhalb von Fuenteobejuna geführt worden. Er hatte auf sie herabgelächelt, weil sie nicht in Ohnmacht fallen wollte beim Anblick des Blutes und der abgehackten Gliedmaßen und vor allem des Dampfes wegen, der von dem kalten Steinboden aufstieg. Das war der Geruch, an den sie sich erinnert hatte. Ganz und gar kein Scheunengeruch.
      Blutspritzer waren so weiträumig verteilt, bis hinauf an die Decke, bis an die gegenüberliegende Wand, als wäre Mr. Mackenzie explodiert. Doch das meiste Blut befand sich in dunklen Lachen auf seinem Schoß und auf dem Sofa. Es war so viel. Konnte das von einem einzigen Menschen stammen? Das, wovon ihr schlecht geworden war, war vielleicht die Normalität seines Pyjamas, so englisch, sogar der oberste Knopf war geschlossen. Mr. Mackenzies Kopf lag in einem unnatürlichen Winkel nach hinten gebeugt. Sein Hals war durchtrennt, und nichts außer der Rückenlehne des Sofas hielt den Kopf mehr aufrecht. Sie sah Knochen und Sehnen und die Brille, die immer noch nutzlos auf seiner Nase saß. Das Gesicht war sehr weiß. Und stellenweise gräßlich blau verfärbt.
      Mrs. Ferrer wußte eigentlich, wo das Telefon stand, aber sie hatte es vergessen und mußte danach suchen. Sie fand es auf einem kleinen Tisch auf der anderen Seite des Zimmers, weit weg von all dem Blut. Sie kannte die Nummer aus einer Fernsehsendung. Neun, neun, neun. Eine weibliche Stimme antwortete.
      »Hallo. Ein schrecklicher Mord ist passiert.«
      »Wie bitte?«
      »Ein Mord ist passiert.«
      »Gut, in Ordnung. Beruhigen Sie sich, weinen Sie nicht. Sprechen Sie Englisch?«
      »Ja, ja. Entschuldigung. Mr. Mackenzie ist tot. Umgebracht.«
      Erst als sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, fiel ihr Mrs. Mackenzie ein, und sie ging nach oben. Mrs. Ferrer brauchte nur eine Sekunde, um zu sehen, was sie befürchtet hatte. Ihre Arbeitgeberin war an ihr Bett gefesselt. Sie schien fast in ihrem eigenen Blut zu schwimmen, ihr Nachthemd auf dem hageren Körper glänzte von Blut. Zu dünn, hatte Mrs. Ferrer insgeheim immer gedacht. Und das Mädchen? Sie fühlte ein Gewicht auf der Brust, als sie eine weitere Treppe hinaufging. Sie stieß die Tür des einzigen Zimmers im Haus auf, das sie nicht saubermachen durfte. Sie konnte kaum etwas von der Person sehen, die an das Bett gefesselt war. Was hatten sie mit ihr gemacht? Braunes, glänzendes Klebeband auf dem Gesicht. Ausgestreckte Arme, die Handgelenke an die Ecken des metallenen Bettgestells gebunden, dünne rote Streifen auf der Vorderseite des Nachthemds.
      Mrs. Ferrer sah sich in Finn Mackenzies Schlafzimmer um. Flaschen lagen verstreut auf der Kommode und auf dem Boden. Fotos waren zerfetzt und zerrissen, Gesichter ausgestochen. An einer Wand stand in einem schmierigen, dunklen Rosa ein Wort, das sie nicht verstand: Piggies. Schweine? Plötzlich drehte sie sich um. Vom Bett war ein Geräusch zu hören. Ein Gurgeln. Sie stürzte hinüber. Sie berührte die Stirn über dem ordentlich angebrachten Klebeband, das die Augen verschloß. Sie war warm. Sie hörte draußen einen Wagen und schwere Schritte in der Diele. Sie rannte die Treppe hinunter und sah Männer in Uniform. Einer von ihnen blickte zu ihr auf.
      »Lebt noch«, keuchte Mrs. Ferrer. »Lebt noch.«

 

2. Kapitel

Ich sah mich um. Dies war keine Landschaft, sondern Brachland, in das man Bröckchen von Landschaft gestreut und dann aufgegeben hatte, einen Baum oder Busch hier und da, eine winterlich kahle Hecke, plötzlich ein Feld, gestrandet in Schlamm und Marschland. Ich wollte ein geographisches Merkmal - einen Hügel, einen Fluß - und konnte keines finden. Mit den Zähnen zog ich einen Handschuh aus, um auf die Landkarte zu schauen, und ließ ihn in das schleimige Gras fallen. Das große Blatt flatterte wild im Wind, bis ich es mehrfach faltete und mir die blaßbraunen Konturen, die rot gepunkteten Fußwege und die rot gestrichelten Reitwege anschaute. Kilometerweit war ich der gepunkteten roten Linie gefolgt, hatte aber die Ufermauer, die mich an den Ort zurückführen würde, von wo ich losgegangen war, nicht erreicht. Ich spähte in die Ferne. Der Horizont war ein dünner Streifen Grau vor Himmel und Wasser.
      Wieder sah ich auf die Karte, die sich unter meinem Blick aufzulösen schien, ein unentzifferbarer Code aus Kreuzen und Linien, Punkten und Strichen. Ich würde zu spät bei Elsie sein. Ich hasse es, zu spät zu kommen. Ich komme nie zu spät. Ich bin immer zeitig da, immer bin ich diejenige, die man warten läßt - die verärgert unter der Uhr steht, die vor einer kalt werdenden Tasse Tee in einem Café sitzt, ein Zucken der Ungeduld unter dem rechten Auge. Ich komme nie, niemals zu spät zu Elsie. Dieser Spaziergang sollte exakt dreieinhalb Stunden dauern.
      Ich drehte die Karte. Ich mußte eine Weggabelung übersehen haben. Wenn ich nach links ging, an dieser dünnen schwarzen Linie entlang, konnte ich den Weg über die sumpfige Landspitze abkürzen und die Ufermauer erreichen, bevor sie an den Weiler stieß, wo mein Auto geparkt war. Ich stopfte die Karte, die jetzt an den Faltstellen brach, in meine Anoraktasche und hob den Handschuh auf. Seine kalten, schlammigen Finger schlossen sich um meine taub werdenden. Ich ging los. Meine Wadenmuskeln schmerzten, und meine Nase lief; schleimige kleine Tropfen, die stechend meine Wangen hinunterrannen. Der riesige graue Himmel drohte mit Regen.
      Einmal flog ein dunkler Vogel, den langen Hals ausgestreckt und mit schwer schlagenden Schwingen, niedrig über mich hinweg, doch sonst war ich ganz allein in einer Landschaft aus graugrünem Sumpf und graublauem Meer. Vermutlich ein seltenes und interessantes Tier, aber ich kenne die Namen von Vögeln nicht. Auch nicht die von Bäumen, bis auf die bekanntesten, Trauerweiden und Silberbirken, die in jeder Londoner Straße stehen und mit ihren Wurzeln die Häuser untergraben. Auch nicht die von Blumen, bis auf die gewöhnlichen, wie Butterblumen und Gänseblümchen, und die, die man freitags abends im Blumengeschäft kauft und in eine Vase stellt, wenn Freunde zu Besuch kommen: Rosen, Iris, Chrysanthemen, Nelken. Aber nicht die der schwachen Pflänzchen, die an meinen Stiefeln kratzten, als ich auf einen kleinen Wald zuging, der nicht näher zu kommen schien. Manchmal, als ich noch in London wohnte, fühlte ich mich bedrückt von all den Plakattafeln, Ladenschildern, Hausnummern, Straßenschildern, Grundstücksgemarkungen und Lieferwagen mit Aufschriften wie »Frische Fische« oder »Ihre freundlichen Möbelpacker«, Neonschriften, die am orangefarbenen Himmel aufleuchteten und verblaßten. Jetzt hatte ich für nichts mehr Worte.
      Ich kam zu einem Stacheldrahtzaun, der den Sumpf von etwas trennte, das wie beackertes Land aussah. Ich drückte den Draht mit dem Daumenballen fest nach unten und schwang ein Bein über den Zaun.
      »Kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme klang freundlich. Ich drehte mich nach ihr um, und der Stacheldraht verfing sich im Schritt meiner Jeans.
      »Danke, ich komme schon zurecht.« Ich schaffte es, das andere Bein hinüberzuheben. Er war ein bärtiger Mann mittleren Alters in einer braunen Steppjacke und grünen Stiefeln und kleiner als ich.
      »Ich bin der Farmer.«
      »Wenn ich in gerader Linie hier weitergehe, komme ich dann auf die Straße?«
      »Mir gehört dieses Feld.«
      »Nun ja…«
      »Dies ist kein öffentlicher Weg. Sie betreten Privatbesitz. Mein Land.«
      »Oh.«
      »Sie müssen da entlanggehen.« Ernst zeigte er in die Richtung. »Dann erreichen Sie einen Fußweg.«
      »Kann ich nicht einfach…?«
      »Nein.«
      Er lächelte mich an, nicht unfreundlich. Sein Hemd war am Hals falsch zugeknöpft.
      »Ich dachte immer, auf dem Land kann man überall frei herumlaufen.«
      »Sehen Sie meinen Wald da drüben?« fragte er grimmig. »Jungen aus Lymne« - er sprach es aus wie »Lumney« - »haben angefangen, auf dem Weg durch den Wald Fahrrad zu fahren. Dann kamen sie mit Motorrädern. Sie haben die Kühe erschreckt und den Weg unpassierbar gemacht. Letztes Frühjahr sind ein paar Leute mit einem Hund über das Feld meines Nachbarn gegangen und haben drei von seinen Lämmern getötet. Ganz zu schweigen von all den Gattern, die sie offenlassen.«
      »Das tut mir leid, aber…«
      »Und Rod Wilson, gleich da drüben, der hat früher Kälber rüber nach Ostende geschickt. Sie haben angefangen, Streikposten am Hafen in Goldswan Green aufzustellen. Vor ein paar Monaten wurde Rods Scheune niedergebrannt. Nächstesmal ist es vielleicht ein Haus. Und dann sind da das Winterton und die Thell-Jagd.«
      »Schon gut, schon gut. Wissen Sie, was ich machen werde? Ich werde wieder über diesen Zaun klettern und in einem großen Bogen um Ihr Land herumgehen.«
      »Kommen Sie aus London?«
      »Früher habe ich in London gewohnt. Ich habe Elm House auf der anderen Seite von Lymne gekauft. Lumney. Sie wissen schon, das Haus, wo es überhaupt keine Ulmen gibt.«
      »Also ist es denen endlich gelungen, es loszuwerden.«
      »Ich bin aufs Land gekommen, um dem Großstadtstreß zu entkommen.«
      »Sind Sie ja. Wir haben immer gern Besucher aus London. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.«

Freunde hatten gedacht, ich mache Witze, als ich sagte, ich würde am Krankenhaus in Stamford arbeiten und auf dem Land wohnen. Ich habe immer nur in London gelebt - in London oder zumindest seinen Vorstädten bin ich aufgewachsen, zur Universität gegangen, habe meine Assistenzzeit absolviert und gearbeitet. Was ist mit Geschäften, die Essen ins Haus liefern? hatte einer gefragt. Und was ist mit Spätfilmen, Läden, die rund um die Uhr geöffnet haben, Babysitten, M&S-Mahlzeiten, Schachpartnern?
      Und Danny, als ich endlich den Mut aufbrachte, es ihm zu sagen, hatte mich mit Augen voller Wut und Verletzung angesehen.
      »Was soll das, Sam? Willst du dich auf irgendeiner verdammten Dorfwiese ganz intensiv deinem Kind widmen? Sonntags Lunchs geben und Blumenzwiebeln pflanzen?« Ich hatte tatsächlich an ein paar Blumenzwiebeln gedacht.
      »Oder«, hatte Danny weiter gesagt, »verläßt du mich endlich? Ist es das, worum sich alles dreht, ist das der Grund, warum du dich nie damit aufgehalten hast, mir wenigstens mitzuteilen, daß du dich um einen Job auf dem flachen Land bewirbst?«
      Ich hatte mit den Schultern gezuckt, kühl und feindselig, weil ich wußte, daß ich mich schlecht benahm.
      »Ich habe mich nicht darum beworben. Die sind zu mir gekommen. Und vergiß nicht, Danny, wir leben nicht zusammen. Du wolltest deine Freiheit.«
      Er hatte eine Art Ächzen von sich gegeben und gesagt: »Hör mal, Sam, vielleicht ist die Zeit gekommen…«
      Aber ich hatte ihn unterbrochen. Ich wollte nicht, daß er sagte, wir sollten endlich zusammenleben, und ich wollte auch nicht, daß er sagte, wir sollten uns endlich trennen, obwohl ich wußte, daß wir uns bald würden entscheiden müssen. Ich hatte eine Hand auf seine widerstrebende Schulter gelegt. »Es ist nur anderthalb Stunden entfernt. Du kannst kommen und mich besuchen.«
      »Dich besuchen?«
      »Bei mir bleiben.«
      »Oh, ich werde kommen und bei dir bleiben, mein Liebling.« Und er hatte sich vorgebeugt, ganz dunkles Haar und Bartstoppeln und Geruch von Sägemehl und Schweiß, und hatte mich an dem Gürtel, der durch die Schlaufen meiner Jeans gezogen war, an sich gerissen. Er hatte meinen Gürtel geöffnet und mich auf das Linoleum der Küche hinuntergedrückt, auf die warme Stelle, unter der ein Heizungsrohr verlief, und seine Hände unter meinem Kopf mit den kurzen Haaren hatten verhindert, daß er auf den Boden aufschlug, als wir hinfielen.

Wenn ich rannte, würde ich vielleicht noch rechtzeitig zu Elsie kommen. An der Ufermauer pfiff der Wind, und der Himmel wurde vom Wasser verschluckt. Ich atmete stoßweise. In meinem linken Schuh befanden sich ein paar Steinchen, die beim Gehen in den Ballen drückten, aber ich wollte nicht anhalten. Es war erst ihr zweiter Tag in der Schule. Die Lehrerin wird denken, daß ich eine schlechte Mutter bin. Häuser! Endlich sehe ich Häuser. Häuser aus den dreißiger Jahren, rote Ziegel, quadratisch, Häuser, wie Kinder ihr Zuhause zeichnen. Perfekt gekräuselter Rauch, eins, zwei, drei Wölkchen aus der ordentlichen Reihe der Schornsteine. Und da war das Auto; vielleicht würde ich doch nicht zu spät kommen.

Elsie wiegte sich von den Fersen auf die Fußspitzen, von den Zehen auf die Fersen. Ihr glattes, helles Haar schwang bei der Bewegung. Sie trug eine braune Regenjacke, ein rot und orange kariertes Kleid und rosa getupfte Strumpfhosen an den staksigen Beinen, die an den sich ständig drehenden Fußknöcheln Falten warfen. (»Du hast gesagt, ich dürfte mir meine Kleider aussuchen, und ich will diese anziehen«, hatte sie beim Frühstück aufsässig gesagt.) Ihre Nase war rot, und ihr Blick leer.
      »Komme ich zu spät?« Schuldbewußt umarmte ich ihre abweisende Gestalt.
      »Mungo war bei mir.«
      Ich sah mich auf dem verlassenen Spielplatz um.
      »Ich sehe niemanden.«
      »Jetzt nicht mehr.«

An diesem Abend, nachdem Elsie eingeschlafen war, fühlte ich mich in meinem Haus am Meer einsam. Die Dunkelheit draußen war wirklich sehr dunkel, die Stille geradezu unheimlich. Ich saß am unangezündeten Kamin, Anatoly auf dem Schoß, und sein Schnurren, wenn ich ihn hinter den Ohren kraulte, schien das Zimmer zu erfüllen. Unschlüssig stöberte ich im Kühlschrank herum, aß ein Stück hart gewordenen Käse, einen halben Apfel, einen Riegel Milchschokolade mit Rosinen. Ich rief Danny an, es meldete sich aber nur seine unpersönliche Stimme auf dem Anrufbeantworter, und so hinterließ ich keine Nachricht.

 

Aus dem Englischen von Elke vom Scheidt
© Verlagsgruppe Random House
Alle Rechte vorbehalten!

 

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