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Die eingefrorene europäische Vergangenheit

Pieke Biermann über Sara Paretsky und ihren neuen Roman »Ihr wahrer Name«

 

Ihr wahrer Name Folgt die Realität mal wieder der Fiktion? New Yorks Skyline war lange vor dem 11. September beliebtes Zerstörungsobjekt in Actionthrillern. In Hollywood holt die US-Regierung sich heute Nachhilfe in Terror-Szenarien. Und eben kommt die erste Sammelklage gegen US-Firmen wegen "Bereicherung aus Sklavenarbeit" - im Namen der etwa fünfunddreißig Millionen Afroamerikaner und nach dem "Drehbuch" den Klagen von Holocaustopfern gegen deutsche Industrie, Schweizer Banken und all die anderen Profiteure.

Mit so etwas hatte 2001 auch Sara Paretsky ihren zehnten V.I. Warshawski-Krimi Total Recall eröffnet, der auf deutsch unter dem Titel Ihr wahrer Name gerade bei Piper erschienen ist. Mit einem Zusammenprall zweier Demos in Chicago beginnt der rasante, verzwickte Plot. Der eine Zug, angeführt von Joseph Posner, besteht aus Fanatikern, die aussehen wie "eine Kreuzung aus einer Jeschiwa und der Jewish Defense League" und stolz auf jeden Tag im Knast und ihre "makkabäische Militanz" sind. Sie wollen ein Gesetz durchboxen, nach dem Versicherungen erstmal nachweisen müssen, daß sie nicht auf Holocaust-Beute sitzen, bevor sie im Staat Illinois Geschäfte machen dürfen. Den zweiten Zug führt "Bull" Durham an, ein ehrgeiziger schwarzer Lokalpolitiker mit eigener Schlägerjugendtruppe, die "Wahlkampfspenden" gern mit Gewalt eintreibt. Die wollen ihrerseits ein Gesetz, daß überhaupt keine Firma, die irgendwie von der Sklaverei profitiert hat, in Illinois eine Gewerbezulassung kriegt.

Es geht dann unter anderem auch darum, wie wenig all das mit "Ethnischem", wie viel dagegen mit Politik, Geld und wechselseitiger Manipulation zu tun hat. Und es gibt weitere solche "Steilvorlagen für die Realität", die aus der Realität kommen. Vics Lover zum Beispiel ist in Afghanistan unterwegs. Er begleitet ein NGO-Impfprojekt, recherchiert über Untergrundschulen für Mädchen und will rauskriegen, wer diese Taliban sind.

Die traut sich was, diese Ms. Paretsky? Selbstverständlich. Denn so was ist das Brot aller guten Politthrillerautoren - Gespür für Gegenwärtiges, ein Riecher für das, was daraus werden könnte. Und Sara Paretsky hat sich spätestens mit Ghostcountry (deutsch Geisterland, beide 1998), ihrem kühnen und gelungenen Ausreißer aus der Warshawski-Serie, in die Riege der großen amerikanischen Erzähler vorgearbeitet, die uns Europäer auch bei tiefster Besorgtheit über amerikanische Politik nicht an Amerika verzweifeln lassen. Die ätzenden, gallebitteren "letzten Moralisten", die oft europäische Wurzeln, immer Überlebenswitz und vor allem die Chuzpe haben, ihr Land und seine Dreckecken ausgerechnet mittels Unterhaltungsliteratur zu sezieren.

Der neue Roman war längst auf dem Markt, als die Türme und bald danach die Taliban fielen. Ein politischer Mensch wie Sara Paretsky war lange davor "shell-shocked", geschockt wie nach einer Bombenexplosion, und zwar seit die Regierung Bush im Amt ist. "Die haben an so vielen Stellen gleichzeitig so ein Rollback geschafft, daß ich das Gefühl nicht los werde, die haben im Berlin von 1933 gelernt", hatte sie mir im Februar geschrieben. Der Umgang mit Frauenrechten, Minderheiten und Umweltschutz gehöre dazu, präzisiert sie Ende März am Telefon. Und wie seit dem "Krieg gegen den Terror" die Informationsfreiheit ebenso gegen Null gefahren werde wie die Rechte von Bürgern gegenüber Staat, Justiz, Polizei. "Jeden Morgen steht in der Zeitung, irgendwas was mich rasend macht, wo ich mich so ohnmächtig fühle!"

Politisch zwischen Wut und Ohnmacht geerdet ist auch Paretskys Privatdetektivin Victoria Iphigenia Warshawski, genannt V.I. oder Vic, mit ihrer Entourage aus Freunden und -innen, Helfern und Hunden. Vic legt sich notorisch mit großen korrupten Konglomeraten an. White collar crime ist ihr Terrain, und ihre Autorin gehört zu den ganz raren Schriftstellern, die von dieser komplexen Materie wirklich etwas verstehen. Es geht gegen Chemiegiganten, die ihre Arbeiter vergiften, Finanzhaie, die alte Leute um ihr Erspartes bringen, Medien- und Securitykonzerne, Knast- und Klinikgeschäfte, die katholische Kirche oder christliche Fundamentalisten, die zum "Schutz des ungeborenen Lebens" auch über die Leichen von Geborenen gehen. Kurz, gegen die Herren (und Damen) mit berufsmäßigen "weißen Kragen". Die wollen Vic regelmäßig buchstäblich ans Leben. Und sind umgekehrt dem "street-smarten", schlagfertigen kleinen Biest aus Chicagos traditionsreicher blue-collar-Klasse ihrerseits suspekt bis widerlich.

Diese "Klassenperspektive" ist mit grausamer Logik am Boden der Tatsachen festgezurrt, und beides zusammen macht alle Paretsky-Romane zu dystopischen Panoramen des Hier und Heute. Große, übergreifende Utopien gibt es nicht mehr. Utopisches ist bestenfalls fragmentarisch und im Kleinen, Nahen zu schaffen - als Solidarität, Verständnis, Hilfe, Liebe. Lebbar ist Dystopia - das universell ist, in Chicago ebenso wie in Berlin, Moskau, Paris und so weiter -, nur mit Intelligenz, Witz und dem Schuß mutwilliger Kindlichkeit, der zeigt, daß Träume nicht wirklich totzukriegen sind.

Und natürlich mit den handverlesenen, kostbaren Vertrauten, die einen wieder zusammenflicken, wenn die Welt einen fast zerschmettert hat. Genau in diesem Konzept aber ist Paretskys zehnter Warshawski-Roman anders als alle anderen. Hier wagt sie einen neuen Bruch, eine neue Radikalisierung. Diesmal geht es "ans Eingemachte", an die utopischen Nischen selbst. Lotty Herschel, Vics Ersatzmutter, fliegt die eigene, systematisch verdrängte Geschichte plötzlich um die Ohren, und wie sie damit (nicht) umgeht, das droht alle Beziehungen um sie herum in Stücke zu schlagen.

Lotty ist ein "Kindertransportkind", hat mit ihrem Bruder als einzige ihrer ostjüdisch-österreichischen Familie in England überlebt, wird dort Ärztin mit rigorosem Arbeitsethos und geht später nach Chicago. Mit einem Teil ihrer Londoner Überlebenden-Clique hält sie Kontakt, Max Loewenthal, zum Beispiel. Seit der herausgefunden hat, daß alle auf dem Kontinent tot sind, und seit sie selbst eine Entscheidung über Leben und Tod treffen muß, ist sie "frozen", eingefroren, was ihre europäische Vergangenheit angeht.

Max, ihr "Liebhaber der späten Jahre", verkörpert das andere Prinzip. Während Lotty trotzig alles verweigert, was ihr nach "Juden als Opfer" riecht (ein Prinzip, das im Roman auch eine schwarze Parallele hat), ist Max' Verantwortungsethik in seiner Selbstdefinition als Überlebender verwurzelt. Beide fetzen sich oft darum, aber das bleibt im geschützten Raum, bis ein drittes "Prinzip" namens Max Radbuka sich aggressiv dazwischendrängt, der - soviel darf man verraten, ohne diesem page-turner, bei dem man tatsächlich erst auf den letzten Seiten alles weiß, die Spannung zu klauen - den "Wilkomirski-Komplex" hat, der dadurch seine zerstörerische Potenz bekommt, daß eine ambitionierte Hypnose-Therapeutin sich seiner "Erinnerungen an Terezin" annimmt.

All das, sowie eine schwindelerregende Dynamik von Mutter-Tochter-Rollenwechseln, ist wie bei Paretsky gewohnt minutiös und raffiniert verstrickt mit Vics Fall. Ein alter Schwarzer ist gestorben, die Familie muß feststellen, daß jemand schon vor Jahren seine Sterbeversicherung geplündert hat. Arm und schwarz, mitsamt hochplausiblen Ausfällen gegen die weiße Detektivin, die den Fall übernimmt, und auf der Gegenseite ein Versicherungskonzern, der gerade in Schweizer Besitz übergegangen war, als Posners Makkabis und Durhams Team mobilmachen. Ein längst toter Nazi, der Versicherungsbeiträge in Sütterlin notiert, die Ähnlichkeit jüdischer und schwarzer Namen (Aaron Sommers), die Arroganz, mit der sich Amerikaner und Europäer wechselseitig mißverstehen, und alles, was dazu paßt an kleinen und großen Schweinereien. Und von Episode zu Episode bedrohlicher das von Lotty stur gehütete Geheimnis ihrer von der Schoa vereisten Geschichte.

Wie schreibt man so einen Stoff? "Ich wollte nicht - lange nicht", erzählt Sara Paretsky, "mein Vater hat diese 'jüdische Paranoia', dagegen hab ich mich jahrzehntelang gesträubt." Ein bißchen wie Lotty, die in diesem Roman eher wie das alter ego der Autorin erscheint als Vic. Auch Sara Paretskys sämtliche europäischen Vorfahren wurden ausgelöscht - nicht nur die beiden Urgroßmütter, denen der Roman gewidmet ist. Im Osten. Da wollte sie nie, nie hin. Bis heute nicht. Sara Paretsky kam "nur" bis Buchenwald, 1993, während einer Lesereise. Bei den Lesungen war sie beeindruckt von jungen Deutschen, die "so offen, so kenntnisreich und so nachdenklich" waren. Den Buchenwald-Besuch machte sie in Begleitung eines jungen Journalisten, der Nazikind ist, und ihrer Presseagentin, die als Kleinkind alles miterlebt hatte, was siegreiche Soldaten den flüchtenden Frauen der Besiegten antun. Es war eine irrsinnig aufreibende Zeit, aber aus beiden Erlebnissen muß sich irgendwann die Erkenntnis herausgemendelt haben, daß sie diesen, ihren Stoff schreiben muß. "Trotzdem hab ich noch jahrelang gegrübelt, ob das nicht auch wieder Ausbeutung des Holocaust ist", sagt sie. Und wundert sich, daß ihr den Vorwurf bisher niemand gemacht hat.

Die Konstruktion geht literarisch auf, auch wenn die Dramaturgie aus Plot und dazwischengeschalteten Ich-Erzählungen ("Lottys Geschichte"), deren Ort und Zeit erst am Schluß klar wird, manchmal ein bißchen klemmt. Total Recall ist Sara Paretskys intensivster, klügster Roman bisher - und das liegt nicht zuletzt an der disziplinierten Kühnheit, mit der sie emotional Berührendstes und eine ganz fettfreie, lakonische Sprache zusammenbringt. Dazu viel Straßenwitz und manchmal Schnoddrigkeit.

In den deutschen Übersetzungen war von Paretskys Kunst der Lakonik bisher leider nie etwas zu sehen. Auch hier nicht. Dialoge, Beschreibungen sind bräsig-bieder und funktionieren meistens nach dem Prinzip: Aus 1 (Zeile) mach 3. Schwarze Intonation fällt ganz unter den Tisch, und die biestige kleine Bemerkung: "I felt a little hollow below my diaphragm" wird ein "hohles Gefühl im Bauch", als wäre Hunger der Grund und nicht der ferne, fehlende Liebhaber. Gerechterweise sei erwähnt, daß die Übersetzung ein paar Klippen umschifft - die im Original fälschlich als KZ-Wärterin bezeichnete Ilse Koch mutiert zur neutralen "Bestie". Aber eigentlich hätte die deutsche Übersetzerin - wofür gibt es e-Mail und Telefon? - gemeinsam mit der Autorin den ganzen wackligen Nebenstrang um "Ilse Koch, die Wölfin" für den deutschsprachigen Markt bearbeiten müssen. Was man dagegen nicht hätte bearbeiten dürfen, sind jüdische DPs - die werden zu "Vertriebenen" und der "miese alte Jude" einer Haßtirade, der zum "geizigen" geglättet wird. Das ist peinlich. Aber vielleicht macht sich der Verlag ja vor der zweiten Auflage an eine Bearbeitung. Auch Leser, die kein Englisch können, sollten Sara Paretsky lesen dürfen. Dringend.

 

© Pieke Biermann, 2002

 

Weitere Infos bei kaliber .38 zu Sara Paretsky:

Im Namen des 11. September.
Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (2002)
Pieke Biermann: Verschärfte Schikane.
Eine Besprechung des Romans »Die verschwundene Frau« (2001).
Gewalt an Frauen ist das Leitmotiv der amerikanischen Kriminalliteratur
Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (1991)

Eine Sara Paretsky-Bibliographie und ein kleines Porträt finden Sie in unseren Autoren-Infos

 

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