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Stiftung Genshagen

Tagung: Krimis in Deutschland, Frankreich und Polen -
Spiegel der Gesellschaft?

 

3. Begegnung
9. bis 10. März 2007
im Schloss Genshagen

 

Programm und Bericht

 

Programm der Tagung

FREITAG, 9. MÄRZ 2007

14:00 Begrüßung und Einführung
- Prof. Dr. Philippe Meyer, Vorstandsmitglied der Stiftung Genshagen
- Katrin Schielke, Projektleiterin Kultur, Stiftung Genshagen

14:15 Krimis in Deutschland, Frankreich und Polen: Aktuelle Tendenzen
Podiumsdiskussion

- Claude Mesplède, Herausgeber u.a. "Dictionnaires des littératures policières", Ed. Joseph K., 2003, Toulouse
- Tobias Gohlis, Literaturkritiker, Hamburg
- Thomas Wörtche, Literaturkritiker, Berlin
- Piotr Bratkowski, Literaturkritiker, Warschau
Moderation: Gérard Meudal, Journalist «Le Monde des Livres», Paris

15:30 Lesungen
- Wolfgang Schorlau, Autor, Stuttgart, liest aus "Fremde Wasser", Kiepenheuer und Witsch, 2006
- Michel Quint, Autor, Lille, liest aus "Billard à l¹étage", Rivages, 2002
Moderation: Mateusz Hartwich, Kulturwissenschaftler, Berlin

16:30 Die Große Geschichte: Kriege des 20. Jahrhunderts in Krimis
Podiumsdiskussion

- Richard Birkefeld, Historiker, Autor, Hannover
- Göran Hachmeister, Historiker, Autoren, Hannover
- Christian v. Ditfurth, Historiker, Autor, Ahrensbök
- Jean-Bernard Pouy, Autor, Paris
- Malgorzata Saramonowicz, Autorin, Warschau
Moderation: Elfriede Müller, Historikerin, Berlin

18:00 Lesungen
- Artur Górski, Autor, Warschau liest aus "Puma², Dom pod Krakowem, 2005
- Laurence Biberfeld, Autorin, Pernes-les-Fontaines liest aus "Le chien de Solférino", Gallimard 2004
Moderation: Ursula Kiermeier, Übersetzerin, Krakau

18:30 Autoren - Aperitif mit Thierry Crifo , Malgorzata Saramonowicz und Birkefeld/Hachmeister im Marmorsaal (EG) sowie Jean-Bernard Pouy, Irek Grin und Christian v. Ditfurth im Medienraum

Ab 21:00 Piano-Jazz mit Alexander Archangelski
Projektion des Films "Je est un autre" (Kurzfilm von Sabine Zimmer, Drehbuch: Thierry Crifo) im Medienraum

 

SAMSTAG, 10. MÄRZ 2007

9:30 Die großen Geschichten der kleinen Leute
Wessen Geschichten erzählen Krimis? Die Leser von Krimis: das linke Bildungsbürgertum? Gibt es noch Krimis fürs "Volk"?

- Thierry Crifo, Autor, Paris
- Irek Grin, Autor, Leiter des Verlags EMG, Krakau
- Prof. Dr. Jochen Vogt, Germanist, Universität Duisburg-Essen
Moderation: Jean-Claude Tollet, Kulturreferent, Valenciennes

11:00 Arbeitsgruppen

- 1. Krimis in der Kritik - Moderation: Tobias Gohlis
Welche Rolle spielt das literarische Rezensionswesen? Auf welchen Ebenen findet die Kritik statt? Ein Krimikritikernetzwerk in Europa?

- 2. Krimiprojekte in Schulen - Moderation: Magali Tardivel-Lacombe, Studentin Politikwissenschaften, Aix-en-Provence
Wie Krimiprojekte in Schulen zum Lesen anstiften...

12:15 Ergebnisse der Arbeitsgruppen
Moderation: Jacques Lindecker, Autor, Soultz
13:00 www.Europolar.eu.com - eine Webseite für den europäischen Krimi
Wie nach der Genshagener Krimitagung 2004 ein Forum für den europäischen Krimi im Internet entstand...
Moderation: Elfriede Müller und Raphael Villatte, Literaturwissenschaftler, Amiens

13:30 Schlusswort: Katrin Schielke

 

Bericht

Freitag, 9. März 2007

Als einen "Krimi-Junkie" bezeichnete sich die Organisatorin Katrin Schielke in ihren Begrüßungsworten zu dieser dritten Genshagener Krimi-Tagung. Sie sei durch Krimis erst zum Lesen - in der Folge auch anderer, vielleicht "ernsterer" Literatur verführt worden. In diesem Aspekt des Krimis als Verführer, den die Pädagogik weniger verfänglich Leseförderung nennt, mochte man denn auch einen Schwerpunkt erkennen, der in den beiden vorhergegangenen Tagungen eher vernachlässigt worden war.

Piotr Bratkowski, Tobias Gohlis, Gérard Meudal

Piotr Bratkowski, Tobias Gohlis, Gérard Meudal

Wenn man von der dritten Genshagener Krimi-Tagung spricht, so gilt diese Zählung nicht für die polnischen Teilnehmer, die erst zum zweiten Mal dabei waren. Die erste Tagung im November 2003 war noch eine rein deutsch-französische Veranstaltung gewesen. Entsprechend groß war das Interesse an der polnischen Entwicklung, als in der ersten Podiumsdiskussion unter der Moderation des französischen Literaturktitikers Gérard Meudal nach den aktuellen Tendenzen des Krimis in den drei Teilnehmerländern gefragt wurde. In einem totalitären Regime kann der Kriminalroman kaum gedeihen. Ist er - zumindest in der "klassischen" Whodunit-Form - ohnehin an gewisse Strukturvorgaben gebunden, bekommt es ihm denkbar schlecht, wenn zu diesen Vorgaben noch Zensurzwänge kommen, die etwa im Italien Mussolinis verbaten, dass der Täter ein Italiener sei, was dann zu einem gänzlichen Verbot des Krimis im faschistischen Italien führte. (Kriminalroman im Nationalsozialismus wäre vielleicht ein lohnendes Thema für eine nächste Tagung.) Dementsprechend hatte der Täter im "Milizroman" des sozialistischen Polens politisch korrekt der Bourgeoisie, gerne auch der westdeutschen Bourgeoisie, das Opfer dagegen der Arbeiterklasse anzugehören. Der Publizist Piotr Bratkowski wies auf einen weiteren Aspekt hin, der es dem Krimi im sozialistischen Polen schwermachte: Die polnische Gegenwart gab keinen klassischen Krimi-Helden, keinen Ermittler als Sympathieträger her. Denn Privatdetektive gab es natürlich nicht, und die staatliche Miliz war so sehr in Misskredit geraten, dass ein Ermittler aus ihren Reihen von vornherein nicht ernst genommen worden wäre. All dies führte dazu, dass beim Umschwung von 1989 die Kriminalliteratur eine terra incognita war. Und anders als die Ex-DDR war ja die dritte polnische Republik gesellschaftlich und vor allem sprachlich auf sich gestellt. Das völlige Fehlen einer polnischen Krimi-Tradition und vor allem begabter Krimi-Autoren habe zunächst dazu geführt, dass der Bedarf durch Übersetzungen aus dem Angelsächsischen gedeckt wurde.

Die deutschen und polnischen Dolmetscherinnen

Die deutschen und polnischen Dolmetscherinnen

Der Soupçon gegenüber allen Formen der U-Literatur, laut Bratkowski in Polen besonders ausgeprägt, habe ein Übriges getan, um dem polnischen Krimi der Nachwendezeit das Leben schwer zu machen. Mit der Folge, dass eher entfernt Krimiähnliches, produziert von den Vertretern der "Hochliteratur", herausgebracht wurde. So als könne das Genre nur in veredelter Form vor den Literaturkennern bestehen. Die vermeintlich gröber gestrickten Liebhaber des "Nur-Krimis" läsen, so Bratkowski, ohnehin lieber Übersetzungen aus dem Englischen. Eine andere Form solcher Nobilitierung des Krimis polnischer Herkunft sah Bratkowski in der Historisierung, der Verlegung des Plots in vergangene Zeiten. Bekanntestes, auch ins Deutsche übersetze Beispiel: Der im deutschen Breslau der 20er und 30er Jahre ermittelnde Kriminaloberrat Eberhard Mock, ein Geschöpf des Breslauer Altphilologen Marek Krajewski.

Erst in der jüngsten, ja allerjüngsten Zeit stelle sich, so Bratkowski so etwas wie eine ästhetische Normalisierung ein. Es entstehe eine Sehnsucht nach dem handwerklich gut gemachten und nicht allzu experimentiersüchtigen "Nur-Krimi". Schon auf der letzten Genshagener Krimi-Tagung im Dezember 2004 war darauf hingewiesen worden, dass es einer Zeit von mindestens fünfzehn Jahren bedürfe, bis sich nach Absetzung eines totalitären Regimes eine "gesunde" Kriminalliteratur etablieren könne. Das zeigen die Beispiele des postfaschistischen Italien und der Nach-Franco-Zeit in Spanien. Es passte daher ins Bild, wenn der vielleicht bedeutendste deutsche Krimi-Kritiker Thomas Wörtche darauf hinwies, wie schwer es ihm falle, osteuropäische Krimis für die von ihm gegründete, multikulturell ausgerichtete Metro-Reihe zu finden. Wörtche zeigte auch - und der Krimi-Experte Claude Mesplède stimmte aus französischer Sicht zu -, dass sich in Deutschland und in anderen Ländern Westeuropas eher die Tendenz zum Experiment bzw. die Lust der Hochliteratur auf den Krimi konstatieren lasse. Wörtche wollte allerdings solche Grenzüberschreitungen - als Beispiel nannte er etwa Martin Walsers Spionageroman Dörle und Wolf oder Thomas Hettches Fall Arbogast - allenfalls "komisch" finden - komisch mit Naserümpfen, nicht mit Schmunzeln. Bratkowski konnte nun zu der interessanten These vorstoßen, Polen entwickle sich - wie wohl auch die anderen Länder des früheren Warschauer Pakts - gegenläufig zum "Rest der Welt": in der westlichen Welt gebe es einen gewissen Überdruss an der überkommenen Krimiform bzw. den Versuch, Krimi-Stoffen literarische Weihen zukommen zu lassen. In Polen dagegen existiere vielmehr die Lust darauf, endlich konventionelle, gut erzählte und gut konstruierte Krimis hervorzubringen.

Das Krimi-Publikum

Das Krimipublikum

Wer Wörtches Aufsätze und Artikel kennt, der weiß, dass er vom deutschen Krimi keine allzu hohe Meinung hat. Er vergleicht ihn einmal mit dem - wohl nicht gerade hochkarätigen - Eishockey-Sport von Papua-Neuguinea und führt diesen Qualitätsmangel auf die unterentwickelte realistische Erzähltradition in der deutschsprachigen Literatur zurück. Es gebe eben keinen deutschen Balzac, keinen deutschen Dickens und keinen deutschen Faulkner. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt: Der Kritiker Tobias Gohlis merkte an, das Krimischreiben sei in Deutschland eine Mode geworden, zu viele Leute schrieben Krimis, und entsprechend Mittelmäßiges komme dabei heraus. Zudem mangele es den Autoren an dem Mut, heiße Eisen der sozialen Gegenwart anzupacken - auf einen Hartz IV-Krimi warte der Leser bei aller Produktivität der Autorenszene bisher vergeblich. Mesplèdes betonte, der französische polar scheue sich dagegen keineswegs vor unmittelbarem, auch tagespolitischem Gegenwartsbezug. Als Beispiel nannte er den 2006 mit dem Kritikerpreis "Prix Mystère" ausgezeichneten Roman French Tabloid von Jean-Hugues Oppel, in dem - halb fiktiv, halb dokumentarisch - der Frage nachgegangen wird, durch welche Machtspiele und Intrigen es dem rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Le Pen bei der Wahl 2002 ermöglicht wurde, im zweiten Wahlgang allein gegen Chirac anzutreten. Eine Frage, auf die die Öffentlichkeit wohl, wenn überhaupt, erst in ein paar Jahrzehnten eine befriedigende Antwort bekommen wird. Hier kann die Fiktion also etwas leisten, was dem investigativen Journalismus kaum möglich ist. Der Krimi kann plausible Hypothesen aufstellen, ohne gleich alles beweisen zu müssen.

Der französische Krimi tagespolitisch Partei ergreifend und sozialkritisch, der deutsche eher unpolitisch? Dass diese These nicht verallgemeinert werden kann, zeigte die anschließende Lesung. Der deutsche Wolfgang Schorlau und der Franzose Michel Quint lasen aus ihren - jeweils mit Preisen ausgezeichneten - Romanen Fremde Wasser (Deutscher Krimipreis 2006) und Billard à l'étage (Grand Prix de littérature policière 1989). Während es in Billard à l'étage ganz zeitlos um einen Mord in einer abgelegenen südfranzösischen Kleinstadt geht, spielt Fremde Wasser im politischen Berlin und dreht sich um ein hochbrisantes Thema, um die Privatisierung der Wasserversorgung.

M. Saramonowicz, E. Müller, C. v. Ditfurth, R. Birkefeld und G. Hachmeister

M. Saramonowicz, E. Müller, C. v. Ditfurth, R. Birkefeld und G. Hachmeister

Die folgende Diskussionsrunde zeigte, dass das Genre Kriminalroman überaus geeignet ist, sich mit politischen und zeitgeschichtlichen Themen auseinanderzusetzen. Es ging um die Darstellung von Kriegen des 20. Jahrhunderts im Krimi. Die Moderatorin Elfriede Müller befragte Christian von Ditfurth und das Autorenduo Richard Birkefeld und Göran Hachmeister, alle drei erfolgreich krimischreibende Historiker, worin - etwa bei der Auseinandersetzung mit Themen des Zweiten Weltkriegs - der Vorteil der belletristischen Geschichtsbetrachtung gegenüber wissenschaftlicher Sachliteratur liege. Birkefeld gab die zunächst nächstliegende Antwort: Man erreiche einfach mehr Leser als mit trockener Fachliteratur. Von Ditfurth sekundierte, er erreiche mit seinen Romanen ein Lesepublikum, das an der historischen Thematik als solcher nicht unbedingt interessiert sei. Sachbücher dagegen würden meist von Leuten gelesen, die ohnehin schon mit der Materie vertraut seien und eine Bestätigung ihrer eigenen Ansichten suchten.

Die Buchhändler: Cornelia Hüppe-Binder (Miss Marple), Bernd Binder, Patrick Suel (Zadig)

Die Buchhändler: Cornelia Hüppe-Binder (Miss Marple), Bernd Binder, Patrick Suel (Zadig)

Aber gerade bei von Ditfurth kommt ein zweites, interessanteres Argument hinzu: Die Möglichkeit des Gedankenexperiments, der Spekulation im Indikativ, die dem Historiker nicht zu Gebote steht. Natürlich kann der Historiker sagen: Was wäre passiert, wenn... Doch hält er sich zu lange mit solch hypothetischen Fragen auf, setzt er seine Reputation aufs Spiel. Die Geschichtswissenschaft hat sich - und man muss wohl sagen: glücklicherweise - in ihrem Ethos nie geändert, und noch immer gilt Leopold von Rankes "wie ist es eigentlich gewesen". Von Ditfurth malt sich - gewissermaßen in Opposition zu dieser Rankeschen Maxime, aber eben auch über das rein Historisch-Positivistische hinausgehend - in zwei kontrafaktischen Romanen aus, was hätte geschehen können, wäre es geglückt, Hitler zu beseitigen. In Der 21. Juli gelingt das Attentat Stauffenbergs gegen Hitler, allerdings mit katastrophalen Folgen - Deutschland wirft eine Atombombe auf die weißrussische Hauptstadt Minsk und wird zur dritten Supermacht. Für von Ditfurth ist solche Spekulation, wie er bekannte, auch ein Weg, den Widerstand des 20.Juli zu entmystifizieren.

Freilich mochte nicht jeder Zuhörer in der anschließenden Publikumsdiskussion dem Skeptizismus von Ditfurths gegenüber den Widerständlern um den Grafen Stauffenberg zustimmen. Dies führte zu der allgemeinen Frage, ob sich ein Genre, das nach wie vor der Unterhaltungsliteratur zugerechnet wird, überhaupt mit dem Zweiten Weltkrieg, ja auch mit Themen wie dem Genozid an den Juden, beschäftigen dürfe. Dürfen die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte als Vorwand für einen gefälligen Plot dienen? Die polnische Autorin Malgorzata Saramonowicz, deren auch ins Deutsche übersetzter Roman "Sanatorium" sich mit dem Thema der Euthanasie in der NS-Zeit auseinandersetzt, nahm für sich und für alle Autoren das Recht in Anspruch, über den Zweiten Weltkrieg schreiben zu dürfen. Allerdings seien Themen wie der Genozid in den Konzentrationslagern kein literarisches Thema und schon gar kein Gegenstand für Kriminalliteratur.

Jean-Bernard Pouy und Malgorzata Saramonowicz

Jean-Bernard Pouy und Malgorzata Saramonowicz

Krieg im Krimi? Jean-Bernard Pouy vertrat - hierin dem gerade verstorbenen Jean Baudrillard folgend - die Ansicht, die heutige (kapitalistische) Gesellschaft befinde sich auch in Friedenszeiten in einem permanenten, wenn auch versteckten Krieg, dem Krieg der Reichen gegen die Armen, der Erfolgreichen gegen die Erfolglosen. Eine Verallgemeinerung bzw. eine Ausweitung des Kriegsbegriffes, der mancher im Publikum nicht recht zustimmen wollte. Und Pouy überraschte denn auch mit der Aussage, er schreibe "keine Krimis", weil dem klassischen Krimi mit dem ermittelnden, die Staatsgewalt vertretenden Polizisten im Mittelpunkt per se eine affirmative Tendenz innewohne. In den anschließenden Lesungen des polnischen Autors Artur Górski und der Französin Laurence Biberfeld ging es um sexuelle Gewalt und Prostitution was insofern zu Pouys These passte, als dass Sexualität in Kriegen als Waffe eingesetzt wird.

Aus dem freitagabendlichen Autorenaperitif, bei dem zu Kurzlesungen verschiedener Autoren geladen wurde, ragte vor allem eine Filmvorführung hervor. Gezeigt wurde der in Zusammenarbeit mit der Stiftung Genshagen entstandene Kurzkrimi "Je est un autre" von Sabine Zimmer nach dem Drehbuch von Thierry Crifo, der im Frühjahr 2006 Stipendiat der Genshagener Schriftstellerwochen war. Ein heruntergekommener Kriminalkommissar à la Colombo ist versucht, es einem Suizidanten gleichzutun, der am gleichen Tag Geburtstag hatte wie er selbst. Trotz kleiner technischer Mängel ein viel versprechendes Stück Kurzfilm, das über das reine Krimi-Genre hinauswies.

 

Samstag, 10. März 2007

Jean-Claude Tollet, Irek Grin und Thierry Crifo

Jean-Claude Tollet, Irek Grin und Thierry Crifo

Jean Claude Tollet, Kulturreferent aus Valenciennes, der als Moderator fungierte, berichtete in der samstäglichen Podiumsdiskussion Die großen Geschichten der kleinen Leute, er habe einmal den Ratschlag bekommen, "richtige Bücher" zu lesen anstelle von Krimis. Dies warf die Frage auf, in welchen sozialen Schichten der Krimi eigentlich gelesen wird. Hier ist die soziologische Forschung - zumindest in Deutschland und Polen - ein wenig im Hintertreffen. Jochen Vogt, Germanist an der Universität Duisburg-Essen, betonte, über die Leserschaft des Krimis im deutschsprachigen Raum gebe es kaum wissenschaftliche Erkenntnisse. Er sah sich lediglich imstande, auf eine EMNID-Untersuchung aus den 70er Jahren hinzuweisen, nach der immerhin jeder dritte Deutsche Krimis konsumiert. Eine Polarisierung nach politischen Gesichtspunkten habe die Studie nicht feststellen können. Also läsen CDU- wie SPD-Wähler ungefähr im gleichen Maße Krimis. Eine ähnliche Gleichheit bescheinigte die Studie der Geschlechtszugehörigkeit der Krimi-Leser. Hier allerdings meldete Vogt, in der festen Überzeugung, Krimileser seien mehrheitlich weiblich, seine Zweifel an. Aus französischer Sicht konnte der Pariser Autor Thierry Crifo auf die Studie Lire le noir von Annie Collovald und Erik Neveu hinweisen, die im Jahr 2004 eine detaillierte Erhebung zum Krimikonsum in Frankreich vorlegten. Hier traten recht erstaunliche, ja bizarre Ergebnisse zutage. So wiesen Collovald und Neveu in ihrer Studie nach, dass sich besonders geschlechtlich desorientierte Menschen, also Personen, die sich ihrer männlichen oder weiblichen Identität nicht sicher sind, zum Kriminalroman hingezogen fühlen. Für Polen konnte der Autor und Verlagsleiter Irek Grin sagen, dass die soziale Verortung der Krimi-Leserschaft Polens gänzlich im Dunklen liege. Grin schloss sich aber der (oben zitierten) Meinung Piotr Bratkowskis an, nach der die Sehnsucht des polnischen Durchschnittslesers nach einem "ganz normalen", einem "Nur-Krimi" berechtigt und nur allzu verständlich sei. Ein solcher "Nur-Krimi" ohne allzu große literarische und schöngeistige Ambitionen mag denn auch einer Sache dienen, die Jochen Vogt als "Überwindung von Literaturbarrieren" bezeichnete - in Anlehnung an den Begriff der "Sprachbarrieren" des Linguisten Basil Bernstein. Anders gesagt: Es geht um ein großes und wichtiges pädagogisches Projekt namens Leseförderung. Dass Krimis diesem Ziel dienen können, wissen alle, die in jungen Jahren Hitchcocks "Drei Fragezeichen" oder die Romane Enid Blytons gelesen haben. Wer sich mit kindlicher oder auch erwachsener Neugier auf Tätersuche begibt, liest beinahe wie von selbst. Und gerade die Jugendlichen, so Vogt, seien der Kriminalliteratur gegenüber besonders aufgeschlossen, weil sie das Wesen der Handlungsmuster und Plots bereits aus dem Fernsehen kennten. Hier läge also einmal ein Fall vor, in dem das Fernsehen als Förderer der Lesekultur diene.

Arbeitsgruppe Krimis in Schulen

Arbeitsgruppe Krimis in Schulen

Aus dem Publikum kam die sehr interessante Frage an Irek Grin, ob sich seit der Wende 1989, also seit dem Ende des sozialistischen Milizromans in Polen die pädagogische Ausrichtung des Krimis geändert oder gar umgekehrt habe. Ob also, vereinfacht gesagt, nicht mehr die Kapitalisten oder die Westdeutschen die Übeltäter seien. Bemerkenswerterweise antwortete Grin (mit Bedauern), es gebe im Gegenteil eine rückläufige Tendenz - wohl in dem Sinn, in dem in Deutschland von "Ostalgie" gesprochen wird und in dem etwa in Russland viele Menschen die Zustände vor der Perestroika zurückersehnen.

Es gab zwei Arbeitsgruppen zu den Themen Krimi in der Kritik und zu dem wie erwähnt bei dieser Tagung hervorstechenden Thema Schule und Leseförderung durch den Krimi. Bei der Gruppe zur Kritik wurde bemerkt, dass Kritiken zunächst erstaunlich wenig Einfluss auf das Kaufverhalten der Konsumenten haben. Die Arbeitsgruppe zum Thema Krimi in der Schule kam zu ähnlichen Resultaten wie die oben erwähnten Thesen Jochen Vogts. Erwähnt wurde dabei eine Nummer der pädagogischen Fachzeitschrift "Praxis Deutsch" zum Thema Krimi im Deutschunterricht. Wobei auch bemerkt wurde, dass in Frankreich der Krimi auf dem Schulprogramm stehe, wohingegen Deutschland hier noch im Hintertreffen sei.

Präsentation der Europolar-Webseite

Präsentation der Europolar-Webseite, Kerstin Schoof, Claude Mesplède, Elfriede Müller, Raphael Villatte

Zum Schluss stellten Elfriede Müller, Raphael Villatte und Kerstin Schoof die von ihnen mitinitiierte Krimi-Website www.Europolar.eu.com vor, ein einmaliges Projekt, bei dem wohl erstmalig Krimi-Literatur aus ganz Europa in den verschiedenen (zur zeit sechs) Sprachen vorgestellt und besprochen wird. Müller bezeichnete das "Format" dieser Internetseite als eine Mischung zwischen Fanzine und seriösem Journalismus. Die Schwierigkeit dieser Seite ist ihre "Langsamkeit", da sie aufgrund der Vielsprachigkeit und den Übersetzungen aus den jeweiligen europäischen Sprachen nur einmal im Vierteljahr erscheinen kann. "Das Ding ist zu langsam", sagte denn auch Thomas Wörtche bei allem Lob, das er der Seite stiftete, die sich übrigens auch schon einmal mit politischen Themen wie der Frage nach der europäischen Verfassung auseinandersetzt. Müller wies - gewissermaßen zur Verteidigung - noch einmal auf die langwierige Übersetzungsarbeit hin und betonte, man sei bemüht, immer direkt übersetzen zu lassen, also nicht - nach dem Prinzip der "stillen Post" - Übersetzungen weiter in eine Drittsprache zu übersetzen. Schon die Suche nach ehrenamtlichen Übersetzern sei oft zeitraubend. Ausgespart wurde in diesem Zusammenhang die Frage, ob langfristig an eine Kommerzialisierung der Seite gedacht sei. In Hintergrundgesprächen war dazu zu erfahren, dass Werbung aus Gründen der Unabhängigkeit von den meisten der Betreiber abgelehnt, dass aber eine Unterstützung durch irgendeinen Kulturfonds der Europäischen Union erwogen werde.

Alles in allem wieder eine gelungene Tagung, bei der längst noch nicht alle Aspekte des Krimis zur Sprache kamen. Und so kündigte die Organisatorin Katrin Schielke in ihrem Schlusswort eine Fortsetzung der Genshagener Krimi-Tagungen an. Die nächste Tagung wird voraussichtlich in zwei Jahren, also 2009, stattfinden.

 

Bericht, April 2007: Matthias Drebber
Fotos von Norbert Krahlenburg

 

Mit freundlicher Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

 

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