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Daniel Pennac

 

Belleville und der Stamm Malaussène

 

Au bonheur des ogres Die meisten Autoren in der Kriminalliteratur erzählen von den Heldentaten ihrer Hauptfiguren - anders Daniel Pennac in seinen Romanen um Benjamin Malaussène: Malaussène ist der geborene Pechvogel und hat die seltene Gabe, sich immer zur rechten Zeit am falschen Ort aufzuhalten. Als Angestellter eines Kaufhauses ist er jedesmal in unmittelbare Nähe, wenn der Laden Opfer eines Bombenanschlags wird. Ein anderes Mal verdächtigt man ihn, vier alte Dame und einen Polizisten getötet zu haben, später soll er für nicht weniger als 21 Morde verantwortlich sein.

Daniel Pennacs Romane gehören sicher zu den ungewöhnlichsten Werken in der Kriminalliteratur. Augenfällig wird das Absurde der Serie bereits mit dem Beruf der Hauptfigur: Benjamin Malaussène ist professioneller Sündenbock. Er arbeitet in der Reklamationsabteilung eines Kaufhauses, und lässt sich von der aufgebrachten Kundschaft (und seinen Vorgesetzten) solange fertig machen, bis er in Tränen ausbricht, und die Klienten aus Mitleid ihre Beanstandung zurückziehen. Sein außergewöhnliches Talent nutzt er später im "Talion Verlag", wo er nicht lästige Kunden, sondern abgewiesene Autoren und frustrierte Verlagsmanager beschwichtigen muss.

La fée carabine Malaussène ist alles andere als das Nesthäkchen, auf das sein Vorname schließen lässt: Da es keinen Vater gibt, und die Mutter meistens abwesend ist und sich neuen amourösen Eroberungen hingibt, hütet und ernährt Benajamin Malaussène als Ältester ein gutes halbes Dutzend Geschwister, die alle von einem anderen Erzeuger stammen. Tendenz steigend, denn eine jede Malaussène-Geschichte endet mit einer neuen Schwangerschaft - meistens befindet sich die Mutter in anderen Umständen, aber langsam kommen auch die Halbschwestern ins gebährfähige Alter.

"Es ist ein fernsehloses, fabulierfreudiges, chaotisch buntes Familien-Nest, mit dem Daniel Pennac seine Leser seit fünfzehn Jahren erfreut. Bildung - nicht zu verwechseln mit dröger Wissensvermittlung - wird in diesen Romanen großgeschrieben" (1). Die Figur Malaussène ist nicht nur ein literarischer Reflex des auf mehr als drei Jahrzehnte im Lehrerberuf, in denen der Autor Daniel Pennac für etwa 3.500 Kinder die Hüterfunktion übernommen hat. Überhaupt ist die Sippe Malaussène ein Gegenentwurf zur trostlosen Realität der Kinder und Jugendlichen, die (nicht nur) in Frankreich geschichts-los aufwachsen: Kindern, so Pennac, "muss der Spaß an der Lektüre beigebracht werden - dringend. Mir gelingt dies, indem ich vor der Klasse laut Romane vorlese, mit ihnen über Literatur spreche oder ihnen 'Geschichten erzähle'." (2). Das soziale Problem, so Pennac weiter, liege im Verlust der verbalen Kommunikation: Weil die Kids in den betonierten Vorstädten keine Ansprechpartner finden, gründen sie Gangs, in denen die sprachliche Kommunikation auf simple Codes reduziert ist.

Daniel Pennac hat seinen Ansatz in dem viel beachteten Sachbuch »Comme un roman« (1992, dt. »Wie ein Roman, 1994) dargestellt - eine Charta der unveräußerlichen Rechte des Lesers, die darauf abzielte, vor allem junge Menschen wieder mit dem Lesen zu versöhnen. So verwunderte es keineswegs, dass Pennac seine Karriere als Belletrist mit Kinderbüchern begann (1973 hatte er bereits einen kritischen Essay über den [Un-]Sinn des Militärdienstes veröffentlicht.)

La petite marchande de prose Geboren wurde Daniel Pennac 1944 in Casablanca, Marokko. Sein Vater arbeitete bei der Armee und wurde ständig versetzt: Pennac wuchs in unterschiedlichen Garnisonen in den französischen Kolonien in Afrika und Südost-Asien auf. Er studierte in Südfrankreich Französisch und unterrichtete zunächst in Soissons. Bald darauf zog er nach Paris und ließ sich in dem Stadtteil Belleville nieder, in dem er mittlerweile seit gut drei Jahrzehnten lebt.

Benjamin Malaussène und sein exzentrischer, liebenswerter Stamm begegnen uns zum ersten Male in »Au bonheur des ogres« (1985, dt.: »Im Paradies der Ungeheuer«, 1989). Neben Sündenbock Benjamin und Maman Malaussène gehören dazu die fotografiebesessene Schwester Klara, die hellsehende Thérèse mit ihrem Astro-Fimmel, der Bruder Jeremy mit seinem Hang zu praktischen Experimenten bis hin zu funktionierenden Bomben, der kleine Racker, den alle nur "le petit" nennen und mit seinen heißgeliebten Geschichten über Menschenfresser füttern, Louna und Verdun, ein stinkender, epileptische Hund (der nur Wahlplakate des Rechtsauslegers Jean-Marie LePen anpinkelt), und natürlich Bejamins Angebetete Julie, linke Journalistin, die später mit Ben nach einer bizarren Schwangerschaft ein gemeinsames Kind haben wird ("Monsieur Malaussène").

Doch zu diesem Stamm gehört nicht nur die Familie Malaussène, sondern all die illustren Bewohner des multikulturellen quartiers Belleville:

"Belleville, dieser vor Leben sprühende, im Chaos versinkende Stadtteil, in dem Araber, Chinesen, Afrikaner und Franzosen auf engstem Raum zusammenleben, ist der eigentliche Held der Kriminalromane von Daniel Pennac. Als Chronist der kleinen Leute gruppiert er um die Malaussènes eine Gesellschaft höchst skurriler, durchaus glaubhaft gezeichneter Gestalten: vom arabischen Kleinkriminellen über die gefallenen Engel der Straße und den ratlosen Rabbi Razon bis hin zu einem senegalesischen Spezialisten für chinesische Literatur. Bedroht von geldgierigen Immobilienspekulanten, unverbesserlichen Nazis, korrupten Politikern und skrupellosen Medienschaffenden, wachsen die Heimatlosen und Modernisierungsverlierer zu einer großen Familie zusammen. Pennac entwirft so eine Utopie multikulturellen Zusammenlebens." (3)

Monsieur Malaussène Pennacs Romane und sein eigenwilliger, absurder Belleville-Kosmos erinnern an einen anderen großen Schriftsteller, der - gleich Pennac - versucht, aus der Wirklichkeit das Magische zu destillieren: an Jerome Charyn und seine Bronx-Romane um den jüdischen Cop Isaac Sidel. Charyn und Pennac kennen sich seit fünfzehn Jahren, und in der Tat kreuzen sich der Belleville- und der Bronx-Zyklus. Fast wörtlich, wenn Sie so wollen: Isaac Sidel höchstpersönlich entpuppt sich schließlich in der Geschichte »Aux Fruits de la passion« als leiblicher Vater von "le petit". Jerome Charyn nahm Pennacs Spielball dankbar auf und konterte mit einer kleinen Erzählung, die in Frankreich unter dem Titel »Appelez-moi Malaussène« erschien (beide Erzählungen wurden zuerst als Beilage der Tageszeitung Le Monde veröffentlicht).

Pennacs Malaussène-Romane wurden in knapp dreißig Sprachen übersetzt und auch in exotischeren Weltgegenden wie etwa China und Vietnam verlegt. In Italien und Spanien zählt Pennac zu den Superstars der Krimiszene. In Frankreich erschienen seine Werke nach dem zweiten Roman nicht mehr in Gallimards Krimi-Reihe Série Noire, sonder in der Reihe NRF, in der Gallimard schwergewichtige zeitgenössische Literatur verlegt. In Deutschland allerdings ist Pennac auch mit den Neuübersetzungen, an denen der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch seit Ende der Neunziger Jahre bastelt, immer noch nicht über den Rang eines Geheimtipps hinausgekommen. Malheureusement - denn was Günther Grosser bereits 1989 in der taz geschrieben hat, gilt ungebrochen für alle Malaussène-Romane und -Geschichten:

"Daniel Pennac (...) hat mit seinem Roman »Im Paradies der Ungeheuer« das quirligste, unverschämteste und humorvollste Debüt des neuen "roman noir" - so die Genrebeschreibung in Frankreich - abgeliefert. Pennac schreibt mit heißgelaufener Schreibmaschine, seine Phantasie scheint ständig unter Dampf zu stehen, da ist nichts, was ihm nicht noch einen augenzwinkernden Seitenhieb wert wäre. Natürlich kümmert auch er sich einen Dreck um Genreregeln, für ihn gilt nur eins: Der Teufel ist ein Eichhörnchen, und was wirklich ist, muß deswegen noch lange nicht die ganze Wahrheit sein." (4)

Ob wir Benajmin Malaussène und seinen eigenwilligen Stamm noch einmal wiedersehen werden, bleibt abzuwarten. Nach seiner Ankündigung, die Reihe zu beenden, hat Daniel Pennac die Malaussènes noch zweimal wiederbelebt. Pennacs letzte veröffentlichte Arbeit war ein grotesker Roman über einen Diktator irgendwo in Lateinamerika, dem von einer Hexe sein Tod durch die zornige Hand des Volkes vorausgesagt wird. In seiner Angst engagiert der Despot einen Doppelgänger, der wiederum selbst einen Doppelgänger engagiert.

 

© j.c.schmidt, 2003

 

(1) Brigitte Helbling: Designierter Sündenbock. In der vierten Folge seiner Romanserie verliert Daniel Pennac die Lust an seinem Helden. In: Berliner Zeitung, 13.01.2001.
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(2) Anne Rapin: Die Macht der Bücher. Gespräch mit Daniel Pennac. Der Text war online unter der Adresse
http://www.france.diplomatie.fr/label_france/DEUTSCH/DOSSIER/2000bis/11pouvoir.html.
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(3) Ulrich Noller: Krimi verpflichtet. Daniel Pennac und seine Pariser Familie Malaussène sind besser als Fernsehen. In: Die Zeit, Nr. 43/2000.
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(4) Günther Grosser: Hackebeil und Gartenschere. Der neue französische Kriminalroman. In: taz, 02.12.1989.
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Mehr zu Charyn und Pennac finden Sie bei Eric Libiot: L'ami américain. In: L'Express, 07.02.2002, im Internet unter http://livres.lexpress.fr/portrait.asp/idC=3607/idR=5/idTC=5/idG=0

Eine weitere schöne Rezension zum Debüt »Im Paradies der Ungeheuer« hat Matthias Tretter für das Titel-Magazin geschrieben. Der Text war zu finden unter der Adresse
http://www.titel-forum.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=425

 

* * *

 

Malaussène-Serie:
Au bonheur des ogres (1)
[Paris: Gallimard, 1985]
1985 Paradies der Ungeheuer
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001]
[Reinbek: Rowohlt, 1989]
La fée carabine
[Paris: Gallimard, 1987]
1987 Wenn alte Damen schießen
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2002]
[Reinbek: Rowohlt, 1990 unter dem Titel »Wenn nette alte Damen schießen«]
La petite marchande de prose
[Paris: Gallimard, 1989]
1989 Sündenbock im Bücherdschungel
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003]
[Reinbek: Rowohlt, 1991 unter dem Titel »Königin Zabos Sündenbock«]
Monsieur Malaussène
[Paris: Gallimard, 1995]
1995 Monsieur Malaussène
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1997]
Monsieur Malaussène au théatre (2)
[Paris: Gallimard, 1996]
1996
Des chrétiens et des maures (3)
[Paris: Gallimard, 1996]
1996 Vorübergehend unsterblich
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000]
Aux fruits de la passion
[Paris: Gallimard, 1998]
1998 Adel vernichtet
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000]
Le cas Malaussène - Ils m'ont menti
[Paris: Gallimard, 2017]
1998 Der Fall Malaussène - sie haben mich belogen
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019]

 

(1) Der Titel ist eine Anspielung auf Emile Zola, der ein Kaufhaus »Au bonheur des Dames« nannte. Aus dem »Glück der Damen« wird ziemlich genau einhundert Jahre später das »Glück der Menschenfresser«.

(2) Kein Roman, sondern Ein-Personen-Theaterstück. Malaussène erzählt Episoden seines Lebens. Wenn wir das richtig sehen, war die Uraufführung 1999 bei dem berühmten Festival in Avignon.

(3) Ebenfalls kein Roman, sondern eine Malaussène-Geschichte: Das Original hat knapp 90 Seiten, die deutsche Ausgabe 77 Seiten.

 

Andere Romane:
Le Dictateur et son hamac
[Paris: Gallimard, 2003]
2003 Der Diktator und die Hängematte
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005]
Journal d'un corps
[Paris: Gallimard, 2012]
2012 Der Körper meines Lebens
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014]

 

Als J.B. Nacray: (4)
La vie duraille
[Paris: Fleuve Noire, 1985]
1985 Machtspiele
[Reinbek: Rowohlt, 1990]

 

(4) J.B. Nacray ist das gemeinsame Pseudonym von Daniel Pennac, Patrick Raynal und Jean-Bernard Pouy. Die deutsche Ausgabe erschien nicht unter J.B. Nacray, sondern unter den richtigen Namen.

 

Comic:
La débauche
(mit Jacques Tardi)
[Paris: Gallimard, 2000]
2000 Abwärts
[Zürich: Edition Moderne, 2000]
Nemo
[Paris: Hoëbeke, 2006]
2006

 

Theater:
Merci
[Paris: Gallimard, 2004]
2004

 

Kinderbücher:
Les enfants de Yalta
[Paris: J.-C. Lattès, 1978]
1978
Pére Noël
[Paris: B. Grasset, 1979]
1979
Cabot caboche
[Paris: F. Nathan, 1982]
1982 Der Hund und das Mädchen
[Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1998]
[Stuttgart: Franckh-Kosmos, 1996]
L'oeil du loup
[Paris: F. Nathan, 1984]
1984 Afrika und blauer Wolf
[Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1998]
[Stuttgart: Franckh-Kosmos, 1995]
Kamo et moi (5)
[Paris: Gallimard jeunesse, 1992]
[Paris: Bayard Press, 1985 unter dem Titel »La vie à l'envers«]
1985
Le grand Rex (6)
[Paris: Éditions du Centurion, 1986]
1986
Kamo: L'agence babel
[Paris: Gallimard jeunesse, 1992]
[Paris: Bayard Press, 1987 unter dem Titel »Le mystère Kabo«]
1987
L'évasion Kamo
[Paris: Gallimard jeunesse, 1992]
[Paris: Bayard Press, 1988]
1988
Kamo: L'idée du siècle
[Paris: Gallimard jeunesse, 1993]
[Paris: Bayard Press, 1992]
1992
Messieurs les enfants
[Paris: Gallimard, 1997]
1997 Große Kinder, kleine Eltern (7)
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1999]
Bon Bain les Bambins
(mit Illustrationen von Bernard Ciccolini)
[Paris: Gallimard jeunesse, 2001]
2001
Le crocodile à roulettes
(mit Illustrationen von Bernard Ciccolini)
[Paris: Gallimard jeunesse, 2001]
2001
Le serpent électrique
(mit Illustrationen von Bernard Ciccolini)
[Paris: Gallimard jeunesse, 2001]
2001

 

(5) Der französische Verlag Bayard Presse gibt ein Magazin für junge Leser im Alter zwischen 10 und 15 Jahren heraus, das "Je bouqine" heißt. Die Kamo-Romane von Pennac sind zuerst in diesem Magazin erschienen. Im Jahr 2000 erschien in Weinheim bei Beltz und Gelberg Kamos gesammelte Abenteuer. Ob in dieser Ausgabe nun die vier Kabo-Bücher in Originallänge enthalten sind, können wir nicht sagen.

(6) »Le grand Rex« soll bereits 1980 im gleichen Verlag erschienen sein. Die Ausgabe haben wir aber nicht nachweisen können.

(7) Die Einsortierung als Kinderbuch ist nicht ganz korrekt. Pennac erzählt die Geschichte von Kindern, die morgens erwachen und sich in der Rolle ihrer Eltern wiederfinden. Die Eltern wiederum übernehmen den Kinderpart. Eigentlich ein normaler Roman, der aber auch für Jugendliche gut lesbar ist.

 

Sachbücher:
Le Service militaire au service de qui?
[Paris: Éditions du Seuil, 1973]
1973
Comme un roman
[Paris: Gallimard, 1992]
1992 Wie ein Roman
[München: dtv , 1998]
[Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994]
Richard Texier.
De l'abondance au Zénith
[Paris: Flammarion, 2004]
2004

 

© j.c.schmidt, 2003 - 2019

 

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