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Jean-Patrick Manchette wird am 19. Dezember 1942 in Marseille geboren. Seine Herkunft bezeichnet er als kleinbürgerlich. Wichtigster Bezugspunkt des Jungen ist die Großmutter, die aus Schottland stammt (bei Jean François Gérault, dem Manchette-Biographen, erfahren wir, die Dame habe als erste Frau an der Universität in Edinburgh studieren können). Manchette studiert Englisch und unterrichtet für kurze Zeit in England an einer Blindenschule. Anschließend arbeitet er als Übersetzer.
Parallel zu seinen Übersetzungen schreibt Manchette Drehbücher für Film und Fernsehen, einen erotischen Roman ("La chasse d'Aphrodite") und Artikel für die Zeitung La voie communiste. Politisch und künstlerisch verbunden fühlt er sich mit den Situationisten, eine links-anarchische Gruppierung, die radikale Kritik an der westlichen Konsumgesellschaft und der mechanistischen Gesellschaft im Ostblock leisten. Ziel ist es, Situationen des politischen Aufruhrs zu schaffen, zur wichtigsten politischen Ausdrucksform wird das Happening. Substrahiert man die Ende der 60er Jahre üblichen politischen Termini, ähnelt das Bild der Bewegung, der sich Manchette verbunden fühlte, sehr der späteren Punkkultur.
1971 erscheinen die beiden ersten Kriminalromane von Jean-Patrick Manchette, »L'affaire N'Gustro« und »Laisser bronzer les cadavres«. Der letztere ist zuerst erschienen, »L'affaire N'Gustro« jedoch vorher geschrieben. In diesem Roman verarbeitet Manchette einen der großen Skandale der Fünften Republik: die Entführung und Ermordung des marokkanischen Oppositionspolitikers Ben Barka in Paris, an der der französische Geheimdienst beteiligt gewesen sein soll. Die Leiche des Politikers wurde bis heute nicht gefunden, und der Fall harrt noch seiner Aufklärung, weil seit der Regierung de Gaulle die Akten unter Geheimhaltung stehen (die Regierung Jospin hat Anfang 2000 einen Teil der Akten freigegeben). Manchette erzählt die Geschichte aus ungewöhnlicher Sicht: »Ich habe die Perspektive eines Faschisten gewählt, um mich zu distanzieren (...). Das hat meine Verleger in der Série Noire ziemlich aufgeregt, die nicht genau kapierten, ob ich jetzt ein Rechtsextremer bin oder nicht.«. (Interview mit Serge Loupien in der Liberation)
Als Liebhaber der englischen Sprache kennt Manchette die klassische amerikanische Kriminalliteratur, besonders Hammett und Chandler. Als Übersetzer von Ross Thomas, Robert Littell, Donald E. Westlake und anderen, ist er mit der zeitgenössichen Kriminalliteratur vertraut. Die Liebe zum Film prägt seinen behavioristischen Stil: Manchette steht außerhalb der Figuren, betrachtet sie wie durch eine Film-Kamera in ihren Handlungen, aber verzichtet darauf, ihre Gefühle und Empfindungen zu schildern.
Wesentliches Element seiner Schreibe ist die Parodie. Manchette parodiert nicht nur seine Figuren, sondern die ganze Gattung: Kunst ist tot und der Kapitalismus degoutant, wie die Situationisten proklamierten. Unter den Bedingungen der Unterhaltungsindustrie ist für Manchette originäre Kunstproduktion nicht möglich. Der einzig mögliche künstlerische Ausdruck liege in der Parodie, in der Übertreibung alter Kunstformen. Es ist daher höchst plausibel, wenn François Billard behauptet, Manchette selbst habe "in seinen eigenen Kriminalromanen nie einen wesentlichen Teil seines Lebens gesehen, nicht einmal seines Berufslebens". (François Billard: Jean-Patrick Manchette. Der Artikel ist nicht mehr online.)
Am dichtesten ist das Moment der Parodie vielleicht in den beiden Romanen um den melancholischen Privatdetektiv Eugène Tarpon (»Knochenjob«, »Volles Leichenhaus«):
Eugène Tarpon ist zweifellos der erfolgloseste Privatdetektiv aller Zeiten. Er hat so wenig zu tun, dass sogar sein Papierkorb leer bleibt, während sich sein Kopf mit einem Nebel düsterer Melancholie füllt. Tarpon scheint verloren wie der Held eines existenzialistischen Trauerspiels. Doch anstatt sich aus dem Fenster zu stürzen, tut er etwas viel Schlimmeres: Er ruft seine Mutter an und erklärt ihr, er wolle zu ihr in die Provinz zurückkehren. (...) Tarpon ist ein Ausgestoßener, der keiner gesellschaftlichen Gruppierung angehört, einer, der an nichts mehr glauben kann, an keine Ideologie, an keine Institution, schon gar nicht an sich selbst.
(Robert Brack in der taz vom 5.12.2000).
Ab 1982 verfällt Manchette in jahrelanges Schweigen. Manchette erkennt, dass unter den Bedingungen der Kulturindustrie das Subversive zur Unterhaltung verkommt. Lapidar erklärt er seine Schaffenspause: "Als ich sah, dass ich mit meinen Kriminalromanen nicht mehr hinter den feindlichen Linien operieren konnte, habe ich's gelassen." (Interview mit Yannic Bourg in Le Jour, 1993, auch nicht mehr online). Ein anderer Grund für sein Schweigen ist die Platzangst, an der Manchette so schwer erkrankt, dass er seine Wohnung kaum noch verlässt. Natürlich schreibt er weiter - Übersetzungen, ungezählte Artikel und Kritiken über Literatur und Kino (er selbst geht wegen seiner Krankheit nicht mehr ins Kino, sondern schickt seinen Sohn, der ihm die Filme Szene für Szene schildert).
Erst Anfang der 90er Jahre wendet sich Manchette wieder dem Kriminalroman zu. Mit dem Roman "Blutprinzessin" beginnt er einen mit dem Titel »Les Gens du Mauvais Temps« überschriebenen Zyklus. Manchette plant eine Romanserie, die alle um politisch reale Ereignisse kreisen sollten: die kubanische Revolution, die Nelkenrevolution in Portugal, den italienischen Terrorismus oder auch die Solidarnosz-Bewegung in Polen.
Nach weiteren Projekten befragt, antwortet Manchette 1993: "Ich könnte auch Tarpon nochmal aufnehmen, und das Buch würde unter dem Namen Eugène Tarpon erscheinen. Er könnte ein Buch mit dem Titel Manchette Fatale schreiben, das wäre als Spiegeleffekt sehr interessant." (ebd).
Famous last words.
Jean-Patrick Manchette erliegt 1995 in Paris einer Krebserkrankung. Die »Blutprinzessin« bleibt unvollendet.
© j.c.schmidt, 2001
Die Menschen in schweren Zeiten - so lautet auch der Titel des Nachworts, das Manchettes Sohn Doug Headline zur »Blutzprinzessin« verfasst hat. Hier finden Sie eine Fülle weiterer Informationen zu Manchette und seinem Werk.
Ein ausführliches Interview von Benoît Thierry mit dem Manchette-Biograph Jean François Gérault finden Sie unter http://polar.nnx.com/interview/geraultmanchette.htm (externer Link).
Kriminalromane: | ||
Laissez bronzer les cadavres (mit Jean-Pierre Bastid) [Paris: Gallimard, 1971] |
1971 |
Laßt die Kadaver bräunen! [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2007] |
L'Affaire N'Gustro [Paris: Gallimard, 1971] |
1971 |
Die Affäre N'Gustro [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2004] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1990 u.d.T. »Rette deine Haut, Killer: Die Affäre N'Gustro«] |
Ô dingos, ô chateaux [Paris: Gallimard, 1972] [Paris: Gallimard, 1975 u.d.T. »Folle à tuer«] |
1972 |
Tödliche Luftschlösser [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2002] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1991 u.d.T. »Der Killer im Labyrinth«] |
Nada [Paris: Gallimard, 1972] |
1972 |
Nada [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2002] [München: Matthes und Seitz, 1986] |
Morgue Pleine [Paris: Gallimard, 1973] |
1973 |
Volles Leichenhaus [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2000] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1992 u.d.T. »Sieben Stufen zum Himmel«] |
Le Petit bleu de la côte Ouest [Paris: Gallimard, 1976] [Paris: Gallimard, 1980 u.d.T. »Trois hommes à abattre«] |
1976 |
Westküstenblues [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2002] [Frankfurt/M. u.a.: Ullstein, 1983 u.d.T. Killer stellen sich nicht vor] |
Que d'os! [Paris: Gallimard, 1976] |
1976 |
Knüppeldick [Heilbronn: DistelLiteraturVerlag, 2001] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1991 u.d.T. »Mit fast heiler Haut«] |
Fatale [Paris: Gallimard, 1977] |
1977 | Fatale [Heilbronn: DistelLiteraturVerlag, 2006] [Heilbronn: DistelLiteraturVerlag, 2001 u.d.T. »Fatal«] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1993 u.d.T. »Herz aus Blei : Eine femme fatale mit tödlichen Waffen«] |
La Position du tireur couché [Paris: Gallimard, 1981] |
1981 |
Position: Anschlag liegend [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2003] [Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag Lübbe, 1989 u.d.T. »Die Position des schlafenden Killers«] |
La Princesse du Sang [Paris: Rivages, 1996] |
1996 |
Blutprinzessin [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2001] |
Andere: | ||
Les Objectif Mexico (Reisebuch, mit Michel Levine) [Paris: Presses de la Cité, 1968 ] |
1968 | |
Des Andes à l'Amazonie (Reisebuch, mit Michel Levine) [Paris: Presses de la Cité, 1968 ] |
1968 | |
Les Chasses d'Aphrodite (ein erotischer Roman) [Paris: l'Or du temps, 1970 ] |
1970 | |
Mourir d'aimer (als Pierre Duchesne) (1) [Paris: Presses de la Cité, 1971 ] |
1971 | Aus Liebe sterben. Roman einer großen Leidenschaft [Frankfurt/M.: Ullstein, 1995] [Rastatt: Moewig, 1981] [München: Goldmann, 1973] [Gütersloh: Bertelsmann, 1972] [München: Herbig, 1971 ] |
Sacco et Vanzetti (als Pierre Duchesne) (1) [Paris: Presses de la Cité, 1971 ] |
1971 | |
L'homme au boulet rouge (mit J.B. Sussmann) [Paris: Gallimard, 1972] |
1972 |
Der Mann mit der roten Kugel [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2011] |
Griffu (Comic mit Jacques Tardi) [Paris: Éditions du Square, 1978 ] |
1978 | |
Mélanie White (Comic mit Serge Clerc) [Paris: Hachette, 1979 ] |
1979 | |
Cache ta Joie (Theaterstück) [Erstaufführung in Bron, Comédie de Saint-Étienne, 1980] |
1980 | |
Chroniques [Paris: Rivages, 1996] |
1996 |
Chroniques [Heilbronn: Distel Literatur Verlag, 2005] |
Les yeux de la momie: Chroniques de cinéma [Paris: Rivages, 1997] |
1997 |
(1) Die beiden Titel sind mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben nur eine einzige Quelle gefunden, die Manchette explizit das Pseudonym Pierre Duchesne zugeschrieben hat, und die war nicht sonderlich vertrauenswürdig. Allerdings lebte Duchesne wie auch Manchette von 1942 bis 1995.
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