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Das Mädchen im Brunnen

Über Danielle Thiérys Roman »Der tödliche Charme des Doktor Martin«

 

Der tödliche Charme des Doktor Martin Gleich zu Beginn ihrer Karriere ist die Polizistin Edwige Marion aus Lyon mit einem tragischen Fall befasst: Die kleine Lily-Rose Patrie liegt tot im Brunnen des elterlichen Bauernhofs. Marion selbst birgt den Leichnam des Mädchens aus dem modrigen Schacht: Den kalten Kinderkörper an sich gepresst, wird sie mit einer Winde aus dem engen Brunnen gezogen. Wie das Mädchen allein auf die hohe Brunnenmauer hätte klettern können, oder woher das Formalin stammt, mit dem ihr Kleidchen getränkt war, konnten die Ermittler nicht klären. Dennoch konstatieren die Flics als Todesursache Unfall und schließen die Akten.

Der Tod des Mädchens stürzt die Familie in den Abgrund: Die Mutter, schon vor dem Unglück labil, landet in einer psychiatrischen Anstalt, der Vater ergibt sich seiner Trunksucht. Mikaël, Lily-Roses geistig zurückgebliebener Bruder, verschwindet hinter den Mauern einer Einrichtung für Behinderte.

Fünf Jahre sind seitdem vergangen, Edwige Marion ist zur Kommissarin und Leiterin der Mordkommission aufgestiegen. Ein unapptetitlich zerschnibbelter Transsexueller bereitet ihrer Abteilung Kopfzerbrechen. Doch Kommissarin Marion ist nicht bei der Sache: Die hormonelle Umstellung durch ihre Schwangerschaft macht ihr zu schaffen - mehr aber noch die Frage, welchem Mann sie ihren Zustand verdankt: Léo? Vielleicht Sam? Oh Gott, bitte nicht Sam!

Zusätzlich ringt Marion noch um ihr "Elterndiplom": Seit ein paar Jahren lebt das Waisenkind Nina bei ihr, aber der Adoptionsantrag ist immer noch nicht durch. Ob eine Polizeikommissarin, deren Alltag aus Blut und Gewalt besteht, die geeignete Mutter für ein kleines Mädchen ist, muss das Jugendamt noch klären. Um die Entscheidung positiv zu beeinflussen, hat Marion ihre Versetzung auf einen ruhigen Posten in Versailles beantragt.

Ein paar Tage sind es noch, bis sich der Todestag der kleinen Lily-Rose zum fünften Male jährt, da bekommt Edwige Marion ein merkwürdiges Paket: ein Paar rote Kinderschuhe - die Schuhe des Mädchens im Brunnen. Warum sollte jemand Marion ein Asservat aus den Kellern des Polizeipräsidiums nach Hause schicken? Doch nach den Jahren fällt der Kommissarin etwas ins Auge, was vorher niemand bemerkte: Die Schuhe sind zu klein für Lily-Rose Patrie. Gegen den Willen ihres Vorgesetzten sichtet Edwige Marion noch einmal die Beweise und Akten des alten Falles und befragt noch einmal Zeugen des schrecklichen Geschehens. Die Kralle eines seit Jahrtausenden ausgestorbenen Vogels führt die Kommissarin in das örtliche Naturkundemuseum - und auf die Spur des äußerst charmanten Dr. Martin, der einige dunkle Geheimnisse mit sich rumschleppt.

»Der tödliche Charme des Doktor Martin« heißt ein... nun: solider Kriminalroman aus der Feder der Französin Danielle Thiéry. Die Autorin weiß, wovon sie schreibt - sie ist eine der höchstdekoriertesten Polizistinnen in ihrem Lande. Die Schilderung des Polizei- und Lebensalltags der Kommissarin und ihrer männlichen Kollegen Talon und Lavot ist Danielle Thiéry in der Tat gelungen. Auch ist ihre Schreibe recht anschaulich.

Doch die Story ist zu dünn, um sie auf 422 Seiten auszuwalzen. Die titelgebende Figur zerrt Thiéry viel zu spät ins Rampenlicht und lässt sie dort so lange stehen, dass man ernshaft Angst bekommt, das Cover des Romans verrate bereits den Täter. Auch erlahmt das Interesse an und die Sympathie für ihre Hautpfigur: Edwige Marion vergießt literweise heiße Tränen der Rührung und sonstiger Sentimentalitäten, aber keine einzige über ihren toten Geliebten Léo - von dem sie hofft, schwanger zu sein. Léo ist ihr kaum ein Sätzchen, kaum eine Erinnerung wert.

Léo wurde übrigens ermordet - ein Vorfall, der sich kurz vor der erzählten Zeit ereignete. Von der Episode erfährt der Leser allerdings nichts - auch nicht von drei weiteren Todesfällen, auf die Danielle Thiéry mehrfach Bezug nimmt. Das Buch enthält viel zu viele Anspielungen auf frühere Ereignisse, die für den (Erst-)Leser unverständlich bleiben.

 

© j.c.schmidt, 2002

 

Danielle Thiéry: Der tödliche Charme des Doktor Martin. (Affaire classée, 2001). Roman. Aus dem Französischen von Sabine Schwenk. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Aufbau-Taschenbuch Verlag, 2002, 422 S., 9.50 Euro (D)

 

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