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Pragmatische Bestandsaufnahme

Über Alexandra Marinina

 

Widrige Umstände Äußerlich ist sie unscheinbar: Sie hat kein Gesicht, an dem die Blicke der Passanten hängen bleiben, und sie kleidet sich nachlässig-bequem. Allein ihre wohlgeformten Beine genügen ihren eigenen Anforderungen. Die Rede ist von Anastasija Kamenskaja, der Hauptfigur in den Kriminalromanen der russischen Autorin Alexandra Marinina. Kamenskaja ist Analytikerin bei der Moskauer Miliz, in der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen. Ihrem Rang nach ist sie Majorin, doch von alltäglicher Polizei-Arbeit - Ermittlung, Zeugenbefragung, Spurensicherung, Observation - hat die Frau in den frühen Dreißigern kaum mehr Ahnung als ein passionierter Krimileser. Sie kann nicht mit Waffen umgehen und wäre in einer handfesten Auseinandersetzung gewiss manch' greiser Babuschka unterlegen.

Was sie für ihre Abteilung unabdingbar macht, ist ihr phänomenales Gehirn: Die Kamenskaja besitzt legendäre analytische Fähigkeiten. Kaum ein Fall, der nicht über ihren Schreibtisch geht: Sie sichtet Akten und Protokolle, Berichte und Aussagen. Mit rasiermesserscharfem Blick entdeckt sie Lücken und gibt so ihren ermittelnden Kollegen den entscheidenden Impuls. Ihr Verstand erkennt eine Ordnung, wo andere nur Chaos erblicken, spielerisch verknüpft sie lose Enden zu einem festen Strang.

In Russland zählt die Autorin Alexandra Marinina zu den Superstars der Krimi-Szene, und auch in Deutschland hat sie sich mit bisher fünf Romanen um ihre unheldenhafte Hauptfigur ihr Publikum erobert. Im Frühjahr sind gleich zwei neue Anastsija-Fälle erschienen sind, die dazu einladen, sich mit Autorin und Figur zu befassen. Soviel vorweg - es lohnt sich.

In »Widrige Umstände. Anastsijas sechster Fall« wird eine Mitarbeiterin des Innenministeriums tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Der erste Augenschein deutet auf einen Tod durch Stromschlag. Unfall? Ein warmer Teekessel wird zu einem wichtigen Indiz in den Ermittlungen, in deren Fortgang die Kamenskaja ihr Aussehen verändert und zu einer feurig-rothaarigen Journalistin mutiert. Sie recherchiert über Plagiate im Wissenschaftsbetrieb, über merkwürdige Kriminalitätsstatistiken und über Korruption. Die Arbeit kulminiert in einer langen Nacht mit einem Profikiller: In einer fulminanten Szene bringt die Kamenskaja den Auftragsmörder dazu, sie ausgiebig zu bekochen, das Geschirr zu spülen und anschließend einen Kaffee zu servieren.

Der gestohlene Traum In »Der gestohlene Traum. Anastasijas schwerster Fall« übernimmt die Analytikerin zum ersten Mal tatsächlich die Leitung in einer Ermittlung, denn ihr Vorgesetzter Oberst Gordejew, den alle nur "Knüppelchen" nennen, vermutet eine undichte Stelle in seiner Abteilung. Sie untersucht den Mord an der Sekretärin Vika Jeremina, die ihrem Chef kaum zum Tippen und Stenographieren zur Verfügung stand, sondern sich um das leibliche Wohl der meist ausländischen Geschäftspartner kümmerte: Die atemberaubende Schönheit bekam ihr gutes Gehalt für Escort-Service inklusive aller Dienste. Kurz vor ihrem Tod vertraute sie ihrem Lebensgefährten an, jemand würde ihr ihre Träume stehlen und im Radio verbreiten. Verschrobene Kopfgeburt einer chronischen Alkoholikerin? Auf einem kurzen Tripp nach Rom stolpert Anastasija über ein Buch, dessen Cover haargenau den Traum der toten Sekretärin wiedergibt. Die Kamenskaja wühlt, gräbt und analysiert die Daten, doch irgendjemand in der Petrowka, dem Moskauer Quai des Orfèvres, scheint ihre Ermittlungen zu unterlaufen.

Die Kriminalromane der Alexandra Marinina sind mehr als nur gut gemachte Spannungsliteratur, denn sie reflektieren plastisch den Umbruch der russischen Gesellschaft. Marinina stößt auf ungezählte Missstände, doch was die Autorin über einige ihrer populären skandinavischen Kollegen und Kolleginnen erstrahlen lässt, ist das Fehlen jeglicher Larmoyanz: Von Prostitution bis Korruption nimmt sie sich ungezählter zeitgenössischer Miseren an, ohne dass auch nur eine moralinsaure Sentenz aufstößt. Dass russische Milizionäre schlechter bezahlt werden als, sagen wir: Türsteher einer Moskauer Disco, ist nun mal so - bei Marinina wird nicht gejammert, sondern beschrieben, welche Folgen sich daraus für Alltag und Arbeit ihrer Figuren ergeben. Pragmastismus ist die entscheidende Geisteshaltung, und diese wirkt tief hinein bis in die Liebesbeziehungen: Bei Marinina sind diese nicht nur Angelegenheit des Herzens, sondern meist ganz sachliche Bündnisse auch zum Zwecke der Versorgungssicherung.

Marinina ist eine flexible Stilistin, die ihren Erzählfluss mal szenisch zerstückelt, dann wieder in epischer Breite fließen lässt. Ihre Dialoge und Figuren sind eigenwillig - mit ein paar Pinselstrichen nur gelingt es ihr, Begebenheiten und Charakteren Kontur zu geben. Respekt vor der Arbeit der Übersetzerinnen, die die Romane erst zum Klingen bringen: Die Figuren reden nicht wie in einem deutschen oder anglo-amerikanischen Kriminalroman, und eigentümliche Bilder, die hier so wohl niemand (mehr) verwendet, bleiben erhalten (Er sah sie an wie der Kater die süße Milch).

Etwas verwirrend: Die deutschen Ausgaben sind nach Fällen durchnummeriert, aber die Reihenfolge stimmt nicht mit der erzählten Zeit überein: In ihrem vierten Fall »Tod und ein bißchen Liebe« hatte Anastasija ihren langjährigen Freund Ljoscha geheiratet - in den beiden neuen Fällen ist die Kamenskaja noch ledig.

 

© j.c.schmidt, 2003

 

Alexandra Marinina: Widrige Umstände. (Stecenie obstojatel'stv, 1993). Anastasijas sechster Fall. Roman. Aus dem Russischen von Hanna-Maria Braungardt. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003, 285 S., 8.90 Euro (D)

Alexandra Marinina: Der gestohlene Traum. (Ukradennij Son, 1994). Roman. Aus dem Russischen von Natascha Wodin. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Argon, 2003, gebunden mit Schutzumschlag, 412 S., 19.90 Euro (D).

 

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